Der Mann, der ins KZ einbrach
Baustellen, überragt von einer großen Industrieanlage mit vier hohen Schloten. Bei uns hieß sie »Queen Mary«, nach dem Luxusliner mit den drei markanten Schornsteinen. Offenbar konnte da jemand nicht zählen. Überall wurden Werkshallen, Türme und Kamine hochgezogen, Gitterbrücken und Rohrleitungen in großem Maßstab gebaut. An jedem Block führten Schmalspurgleise entlang, auf denen alles herangeschafft wurde, was nötig war, um die Anlage fertigzustellen und in Betrieb zu setzen. Überall, in jedem Spalt und jedem Winkel dieses industriellen Albtraums, sah man die armen Schattenwesen in ihrer schmutzigen Zebrakleidung. Viele waren zu schwach, um zu stehen, geschweige denn, um Lasten zu heben oder gar zu tragen. Mittlerweile war mir klar, dass sie zu keinem normalen Arbeitslager gehörten. Diese Menschen wurden gezwungen, sich zu Tode zu schuften.
Es war die Hölle auf Erden. Die Hölle auf Erden. Es gab kein Gras, nichts Grünes, nur Schlamm im Winter und Staub im Sommer. Die Natur – ganz zu schweigen vom Großen Architekten selbst – hatte diesen Ort verlassen. In der ganzen Zeit, die ich dort war, sah ich keinen einzigen Schmetterling, keinen Vogel, keine Biene.
Schon bald war klar, dass die Wachmannschaften die strenge Gruppentrennung nicht durchsetzen konnten. Es hätte die Arbeitsabläufe verlangsamt, und an oberster Stelle stand, dass die Arbeit so schnell wie möglich getan wurde.
Deshalb dauerte es nicht lange, und wir schufteten Seite an Seite mit den Juden und taten die gleiche Arbeit wie sie, aber wir waren nicht den Prügeln und den willkürlichen Morden ausgesetzt. Wir sollten dort nicht sterben, die Juden schon. Das war der Unterschied. Wann immer der Wind von Westen kam, nahmen wir einen widerlich süßlichen Gestank wahr, der aus mehreren Schornsteinen drang, die sich in einiger Entfernung erhoben.
Ein paar Tage lang arbeitete ich neben einem armen Kerl, der Franz genannt wurde, wenn ich mich recht erinnere. Ich erkannte ihn in der Menge seiner Mitgefangenen. Eines Tages kam er nicht mehr. Ich passte einen Moment ab, als die Kapos gerade nicht hinsahen, und fragte einen der Männer aus Franz’ Kommando, was aus ihm geworden sei. Er zeigte mit beiden Händen nach oben und sagte: »Er ist durch den Schornstein gegangen.«
Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Wer zum Arbeiten zu schwach war, wurde ermordet und verbrannt. Es waren Krematorien, die den widerlichen Gestank verströmten. Nun wusste ich Bescheid, aber Hörensagen allein genügte mir nicht.
Auf einem der Rückmärsche vom IG -Farben-Werk brach ein Streit zwischen britischen Kriegsgefangenen und Wehrmachtsposten aus. Unsere Jungs verhöhnten die Deutschen und buhten sie aus, und ich war mittendrin. Irgendwann gingen die deutschen Soldaten auf uns los, um uns zur Räson zu bringen; sie rempelten uns und schubsten uns herum, während der deutsche Feldwebel, der den Trupp kommandierte, Befehle brüllte. Er war ein großer Kerl, und ausgerechnet in dem Augenblick, als ich mich aus dem Handgemenge löste, fiel sein Blick auf mich. Der Feldwebel entriss einem Posten den Karabiner, packte ihn mit beiden Händen und wollte mir den Kolben mit aller Kraft ins Gesicht stoßen. Ich bemerkte es gerade noch rechtzeitig, wich aus und hörte das hässliche Geräusch zerberstender Knochen: Einer der Deutschen direkt hinter mir hatte die Wucht des Hiebes seitlich gegen den Kopf abbekommen. Er brach zusammen. Sein Gesicht war nicht mehr wiederzuerkennen. Falls der Kolben des neun Pfund schweren Karabiners, der ihm gegen die Schläfe gerammt worden war, ihn nicht sofort umgebracht hatte, lebte er jedenfalls nicht mehr lange. Wir kehrten in Reih und Glied zurück und machten uns auf Vergeltung gefasst. Sie blieb aus. Den Feldwebel habe ich nie wiedergesehen.
Unser Lager war einfach zu gut, als dass wir ewig dort bleiben konnten. Anfang 1944 wurden wir auf ein Gelände verlegt, das nur ein paar Meter vom Südrand des IG -Farben-Komplexes entfernt lag. Die Gestreiften waren irgendwo östlich von uns, außer Sicht, aber so nahe, dass wir nachts Schreie und manchmal Schüsse aus ihrem Lager hörten.
Unser neues Gefangenenlager war primitiv und nackt und überfüllter als das erste. Im Winter hingen in den Baracken die Eiszapfen von der Decke, und in den warmen Monaten wimmelte es von Mücken. Wir hatten eine primitive Latrine, nur eine Reihe von Löchern in einer Planke über einer Grube, aber selbst das war zu wenig für ein Lager
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