Der Mann, der ins KZ einbrach
gesagt, ich sei in Nordafrika verwundet worden. Als ich ihr in meinen Briefen aus dem Gefangenenlager schrieb, es gehe mir gut, hatte sie angenommen, dass ich ihr bloß etwas vorspielte. Dann hatte die unregelmäßige Post von E715 ganz aufgehört. Die Todesmärsche und meine lange Wanderung durch Mitteleuropa hatten begonnen. Meine Mutter wusste nicht, ob ich noch lebte, und befürchtete das Schlimmste. Zu alledem kam noch ihre schwindende Gesundheit.
In den wenigen Jahren, die sie noch lebte, fragte sie mich nie nach dem Krieg, meiner Gefangenschaft oder dem langen Marsch. Damals hielt man es für das Beste, nicht über diese Erlebnisse zu sprechen, und die Soldaten und ihre Familien wurden zum Vergessen ermutigt.
Ich weiß nicht mehr genau, wann mein Vater nach Hause kam. Wie Sie sich vielleicht erinnern, hatte er gelogen, was sein Alter anging, um in die Army eintreten zu können, und das hatte er unter anderem deshalb getan, weil er sich um mich kümmern wollte. Als die deutschen Fallschirmjäger über Kreta absprangen, wurde er verwundet und gefangen genommen. Man brachte ihn nach Österreich und zwang ihn trotz mehrmaliger Lungenentzündungen zur Arbeit beim Bau von Eisenbahngleisen. Ich hörte, dass er vielleicht bald nach Hause käme, aber das konnte alles Mögliche bedeuten.
Eines Tages, als ich mich in einem der kleinen Zimmer im hinteren Teil des Hauses beschäftigte, hörte ich draußen ein Schlurfen. Jemand versuchte zur Hintertür hereinzukommen, schaffte es aber nicht. Ich öffnete die Tür, und da stand er und kämpfte mit seinem Tornister. Er sah hager aus. Als er mich sah, ließ er ihn fallen und umarmte mich zum ersten Mal, seit ich ein Kind war. Ich merkte, dass ich weinte und dass es meinem Vater nicht anders erging.
Ich erinnerte mich an eine Gelegenheit, als ich auf seinem Knie saß und er mir vorsang.
There will come a time one day
when I am far away,
There will be no father to guide you
from day to day.
Der Gedanke, Vater könnte sterben, war mir als Kind unerträglich, und wenn er das Lied sang, schlug ich ihm mit der Faust gegen die Brust, bis er aufhörte.
Ich hatte ihn nie als gefühlsbetonten Menschen erlebt, aber man hat mir erzählt, dass er beim Tod seiner Mutter ganz allein mitten aufs Feld gegangen sei und sich die Seele aus dem Leib geweint habe. Seine Heimkehr zeigte mir, dass wir uns beide verändert hatten, doch seine Umarmung blieb kurz.
Ich war nicht dabei, als er meine Mutter wiedersah. Ich kann nur vermuten, wie es ablief. Sie waren allein, und so gehört es sich auch.
Ich bin mir sicher, dass Vater es bereut hat, sie verlassen zu haben, um in den Kampf zu ziehen, obwohl er es nicht musste. Ich glaube, nach dem Krieg hat er sein altes Leben nie wieder richtig aufgenommen. Aber wenn er litt, wie ich gelitten habe, zeigte er es nie.
Er starb 1960, aber wir sprachen nie über den Krieg und verglichen nie unsere Erlebnisse in der Gefangenschaft. Kein einziges Mal. Ich glaube, er hat nicht einmal gewusst, dass ich in einem Lager in der Nähe von Auschwitz gewesen bin.
Es dauerte nicht lange, bis die Schrecken der Vergangenheit mich einholten. Tagsüber lebte ich in dem freundlichen Dorf in Essex, das ich von Kindesbeinen an kannte, doch nachts, im Schlaf, kehrte ich nach Auschwitz zurück. Die Albträume begannen. Immer wieder sah ich den jungen Burschen, der Habtachtstellung einnahm, während ihm der Pistolengriff ins Gesicht geschmettert wurde und ihm das Blut herunterlief. Ich durchlebte unzählige Male, wie der Säugling von dem SS -Mann mit einem Hieb ermordet wurde. Wenn ich aufwachte, war mein Bettzeug schweißgetränkt. Ich war überzeugt, mich wieder in das Konzentrationslager eingeschmuggelt zu haben und dass meine Entdeckung jeden Augenblick bevorstand.
In der Wüste, in den Jahren der Gefangenschaft und in Auschwitz hatte ich mir immer wieder gesagt: Du darfst nicht denken, du musst handeln. Ich hatte Entscheidungen instinktiv getroffen und war damit durchgekommen. Jetzt drohte keine Gefahr mehr, und ich hatte viel Zeit zum Nachdenken. Zu viel Zeit. Die Träume erlangten Macht über mich. Jede Nacht durchlitt ich die Hilflosigkeit des Zuschauers, der nicht eingreifen kann.
Damals erhielten traumatisierte Veteranen keinerlei Hilfe. An so etwas wurde nicht einmal gedacht. Ich weiß heute, dass ich fertig war, fix und fertig. Und so ging es sehr vielen von uns.
Meine Mutter fragte mich nie nach dem Krieg, doch einige Leute im Dorf
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