Der Mann, der ins KZ einbrach
klar, dass neben mir eine junge Frau ging, die alles verloren hatte, die aber jetzt die Chance besaß, ein neues Leben zu beginnen. Warum sollte ich sie mit dem Grauen von Auschwitz belasten? Ich konnte sowieso nicht darüber reden. Während unseres Gesprächs herrschte oft Schweigen. Ich dachte zum Teil noch immer auf Deutsch. Nachdem ich so viel Gewicht verloren hatte, musste ich schrecklich aussehen.
Das Treffen war bedrückend, und als ich ging, fragte ich mich, ob ich am Ende mehr Schaden angerichtet als Gutes getan hätte. Die Barbarei von Auschwitz war mir in jede Pore gedrungen. Die Erinnerung erfüllte mich ganz und gar, aber ich bekam sie nicht heraus. Wem sollte ich es erzählen? Rückblickend weiß ich, dass ich mich in einer entsetzlichen Verfassung befand. PTBS nennt man es heute – Posttraumatische Belastungsstörung. Ich brauchte Jahre, ehe ich zum nüchternen Denken zurückfand. In der Zeit unmittelbar nach dem Krieg war ich verstört und seltsam.
Irgendwann später versuchte ich noch einmal halbherzig, mit Susanne in Verbindung zu treten. Der Versuch schlug fehl, und ich gab es auf. Ich hatte genug Schaden angerichtet. Das Leben ging weiter.
Am 3. Juni 1945 bekam ich von einer alten Freundin namens Jane, einer Konzertpianistin, ein neues Adressbuch geschenkt. Es war klein und in braunes Leder gebunden, und ich notierte mir darin alles, was ich über die junge Frau wusste, die für mich noch immer Susanne Cottrell, 7 Tixall Road, Birmingham, war. Dort steht auch die Adresse Gerdi Herberichs in Nürnberg – das Brötchen war wirklich lecker.
Auch Les Jacksons Angehörige wurden eingetragen. Seine Verwandten standen als Nächste auf meiner Liste, aber mein Erlebnis mit Susanne hatte mich erschüttert. Monate vergingen, ehe ich zur Aspen Grove in Liverpool zurückkehren und Les’ Familie gegenübertreten konnte.
Ich fuhr hin und besuchte seinen Vater. Wir gingen in eine Kneipe und tranken zu viel. Er hatte seinen Sohn verloren, und ich wusste, wie es geschehen war. Ich war gekommen, um seine Fragen zu beantworten, aber ich ersparte ihm Details. Er brauchte nicht zu wissen, dass Les in Fetzen gerissen worden war. Ich sagte ihm, was wir alle in solchen Situationen sagten: dass ich bei Les gewesen sei, als er starb, und dass es schnell gegangen sei. Ich hoffe, es hat Les’ Vater geholfen. Er zeigte keine Regung. Der Alkohol betäubte ihn.
Der gute alte Les. Er liegt noch heute irgendwo da draußen im Sand.
Wir waren ein wenig mitgenommen, als wir wieder bei den Jacksons zu Hause ankamen. Les’ Schwester Marjorie kam zu uns. Sie war schöner denn je. Ich hatte mit ihr getanzt, ehe ich in den Krieg gezogen war, und ihr Bild hatte über meiner Koje an der Kabinenwand der Otranto gehangen. Ein Bursche namens Evans war bei ihr, und ich begriff, dass die beiden verheiratet waren. Um Marjorie vor ihrem Mann die Peinlichkeit zu ersparen, einen alten engen Freund wiederzusehen, tat ich so, als würden wir uns nicht kennen, und stellte mich vor, als wäre ich zum ersten Mal im Haus der Jacksons; aber ich schützte mich dadurch auch selbst. Marjorie war für mich etwas Besonderes gewesen; sie hatte sich auf der Tanzfläche wundervoll bewegt. Doch während meiner langen Abwesenheit hatte das Leben seinen Fortgang genommen, und eine weitere Tür hatte sich geschlossen. Ich übernachtete bei den Jacksons und fuhr am nächsten Morgen nach Hause.
Les’ Geschichte war damit aber noch nicht ganz abgeschlossen. Er hatte eine Frau, die in Southampton lebte. Als ich wieder in die Kaserne von Winchester kam, besuchte ich sie unangekündigt. Ich hätte es besser wissen sollen, aber ich konnte damals kaum einen klaren Gedanken fassen. An ihrer Haustür stellte ich mich vor, und sie erschrak und bat mich, draußen zu warten. Gleich darauf kam sie mit einer Jacke heraus und schlug vor, dass wir uns in einer Wirtschaft unterhielten.
Ich vermutete sofort, dass sie wieder geheiratet hatte. Daran war nichts Schlimmes, denn Les war seit mehreren Jahren tot, aber mich berührte es auf eigenartige Weise. Ich war gekommen, um ihr Trost zu spenden und die Einzelheiten weiterzugeben, von denen ich glaubte, sie erzählen zu können, doch sie war kaum daran interessiert. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Vielleicht, dass sie wissen wollte, was passiert war. Vielleicht, dass sie gern von den Abenteuern gehört hätte, die Les und ich zusammen erlebt hatten. Aber die Frau hatte nicht viel Zeit und wirkte unkonzentriert
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