Der Mann, der nichts vergessen konnte
verblüffte. Die Konstruktion bestand aus einem tischgroßen, eleganten Holzkasten mit einem Schachbrett obenauf, an der Rückwand saß eine lebensgroße Puppe in türkischer Tracht. Bevor ebendiese gegen Freiwillige aus dem Publikum antrat, pflegte der Erfinder einige Türen und eine Schublade an dem Automaten zu öffnen und das Innenleben zu präsentieren: ein Gewirr aus Walzen, Hebeln und Zahnrädern rasselte darin. Für gewöhnlich spielte die Maschine den menschlichen Gegner in Grund und Boden.
Dabei bewegte sie ihren mechanischen Arm und schob die Figuren eigenhändig über die Felder, bis zum Schachmatt.
Der Kempelensche Schachautomat war, wie man sich denken kann, eine Sensation. Jeder wollte den Türken sehen. Gelehrte stritten sich darum, was da im Spiele sei, Metaphysik oder nur Elektrizität und Magnetismus. Der Baron tourte mit seinem Androiden durch ganz Europa, mehr als dreißig Jahre lang. Er wurde als »neuer Prometheus« gefeiert, als Aufklärer der Neuzeit und Genie der Mechanik. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden kritische Stimmen laut, die in seinem Türken einen großen Betrug sahen. Und das war er am Ende auch. Obwohl fünfzig Jahre nach der ersten Vorstellung des Androiden immer noch Berichte erschienen, die Kempelens Erfindung für einen echten Schachautomaten hielten, erwies sich die Konstruktion letztlich nur als dekoratives Meisterstück der Feinmechanik, in dem ein kleinwüchsiger Schachmeister agierte.
Im Hörsaal wurde gelacht. Einige kannten die Geschichte bereits und schlürften gelangweilt an einer Cola oder widmeten sich dem Studium von JJs Beinen.
»Was lernen wir daraus?«, fragte Kogan in bester Professorenmanier. »Wir lernen, wie Menschen ticken. Und – sobald man das kapiert hat – wie man sie täuscht. Wohl nicht von ungefähr spricht man im Deutschen heute noch vom
›Türken‹, wo wir von einem fake, einem Betrug oder Schwindel sprechen. Nun fragen Sie sich bestimmt: Wie konnten die Menschen nur auf die Puppe hereinfallen?«
Kogan wartete einen Moment, ehe er zur Erklärung ansetzte.
»Um die Antwort zu finden, müssen wir uns in Kempelens Zeit versetzen. Aufgrund der enormen Fortschritte auf den Gebieten der Wissenschaft und Technik hatte sich im 18. Jahrhundert eine durch und durch materialistische Geisteshaltung etabliert. Man glaubte, alles sei in eine endliche Menge von Teilen zerlegbar, deren Verhalten man nach den Regeln der Mechanik und Mathematik genau vorausberechnen könne. Dieser sogenannte Determinismus führte zu der kühnen Vorstellung, man könne den Lauf der Welt, sobald man diese erst in ihre Einzelteile zerlegt habe, bis zur Schöpfung zurückverfolgen und sogar bis in die ferne Zukunft extrapolieren. Wieso also, dachten sich die Jünger dieser Kosmologie, sollte man nicht den Menschen, da er auch nur eine geniale Maschine ist, nachbauen können?« Der Doktor legte eine rhetorische Pause ein, ehe er fragte: »Was ist der Schachautomat somit gewesen?«
»Ein Placebo«, kam es postwendend aus dem Auditorium.
Kogan nickte. »Sehr gut! Ein technisch-philosophisches Placebo. Das Wort kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie ›ich werde gefallen‹. Genau das tat der Türke. Er entsprach den Erwartungen der Menschen seiner Zeit, und damit wurde er tatsächlich zu etwas Metaphysischem. Für das Publikum existierte die denkende Maschine tatsächlich. Es erweckte sie zum Leben. Die Leute hinterfragten nicht, sondern bezahlten brav ihr Eintrittsgeld und applaudierten.
Und damit sind wir genau beim Thema.«
Man hätte im Hörsaal eine Stecknadel fallen hören können. JJ schmunzelte. Kogan hatte die Elitestudenten genau da, wo er sie haben wollte. Und nun sprach er über sein Spezialgebiet.
Viele seiner Kollegen hielten den Cyberterrorismus für keine ernst zu nehmende Gefahr, weil die Qualifikation der Bösewichte in keinem Verhältnis zum Arsenal an Abwehrmaßnahmen in Militär, Behörden und Wirtschaft stünden. Er selbst sei da ganz anderer Ansicht, gab Kogan für einen Vertreter des Staates erstaunlich freimütig zu. Es gebe Methoden, um an Firewalls und anderen Schutzeinrichtungen vorbeizukommen. Das Zauberwort heiße »Social Engineering«. Wer es verstehe, zwischenmenschliche Beziehungen und die Autoritätshörigkeit der Leute auszunutzen, käme leicht an Insiderwissen, das eigentlich geheim sei. Mit dem Rüstzeug der »sozialen Manipulation«
müsse ein Angreifer kein technisches Feuerschott durchbrechen, er könne
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