Der Mann, der sein Leben vergaß
nie gehörter, das Blut erstarrender Schrei gellte durch die Wohnung, mit leblosen Augen starrte ihn Antje an und sank dann an der Tür zu Boden.
Mit einem Satz war Pieter van Brouken in der Wohnung, hob die kaum atmende Antje auf, trug sie in das Wohnzimmer, legte sie auf das alte Sofa, rannte in die Küche, wo ihn ein ihm unbekannter achtjähriger Junge erstaunt und erschreckt anstarrte, holte ein Glas Wasser und ein Handtuch, rannte zurück in das Zimmer, knöpfte Antje die Bluse auf, legte ihr eine Kompresse auf die Stirn und begann dann, ihr Herz unter der zarten, kaum noch atmenden Brust zu massieren.
An der Tür schellte es. Van Brouken rannte auf den Flur und öffnete. Die dicke Postinspektorswitwe stand davor, sah ihn an, wurde zu Stein, schrie dann auf und rannte mit fliegenden Röcken zurück in ihre Wohnung. Ärgerlich schloß Pieter die Tür, rannte zurück ins Zimmer, erneuerte die Kompresse und massierte weiter das Herz der wie tot daliegenden Antje.
Alles wegen eines Diebstahls, dachte er. Ich werde doch die Polizei rufen. Und Antje hätte ich doch vorher anrufen sollen, aber die dicke Witwe war ja so ungezogen am Telefon. Und wie zart Antje ist. Keine Aufregung kann sie vertragen. Man müßte sich einmal einen Sonderurlaub nehmen und mit ihr an die Badeküste fahren. Zwei Wochen Erholung würden Antje bestimmt guttun.
Dabei massierte er und küßte immer wieder die kalten Lippen und die weiße Stirn, über die wirr die blonden Haare hingen.
Unten auf der Straße knirschten die Bremsen eines Autos. Harte Männerstiefel donnerten die Treppe hinauf. Sie machten auf seiner Etage halt. Dann schellte es wieder.
Der Arzt, dachte Pieter. Die Witwe hat sofort den Arzt angerufen. Sie ist doch nicht so böse, wie ich dachte.
Er stand auf, legte die Kompresse noch einmal zurecht und ging dann hinaus.
Als er öffnete, standen drei Männer vor der Tür und gingen an ihm vorbei in die Wohnung. Der dritte schloß die Tür und stellte sich davor.
»Wer sind Sie?« fragte der eine in einem harten Befehlston.
»Pieter van Brouken! – Und Sie?«
Eine helle Marke blinkte unter seinen Augen.
»Kriminalpolizei!«
Als man Pieter van Brouken abführte, war Antje wieder aus ihrer tiefen Ohnmacht erwacht und saß weinend in der Küche. Fietje stand ungelenk um sie herum und fragte hundertmal, warum der Vater denn wieder fortging.
Unten im Wagen des Kommissars Trambaeren setzte sich Ferdinand Brox neben van Brouken und legte ihm die Hand auf den schlaff herunterhängenden Arm.
»Haben Sie keine Angst«, sagte er in einem sanften Ton. »Es ist nur eine Formsache. Sie werden staunen, wenn man Ihnen auf dem Präsidium ein Aktenstück zeigt. Und dann müssen Sie sich erinnern, verstehen Sie, Sie müssen sich erinnern, wo Sie sieben Jahre lang gesteckt haben?!«
»Sieben Jahre?! Aber ich bin doch um fünf Uhr auf der Bank an der Nieuwe Heerengracht eingeschlafen, bestohlen worden, in einen fremden Anzug wurde ich gesteckt … ich habe es Ihnen schon zehnmal gesagt …«
Ferdinand Brox lächelte.
»Es hat keinen Zweck, den Unzurechnungsfähigen zu spielen. Sie haben uns vor sieben Jahren einen tollen Streich gespielt, den müssen Sie jetzt bekennen. Sonst nichts. Wegen der Akten und der Schließung des Falles. Alles andere ist Ihre Privatangelegenheit. – Aber um eines kommen Sie nicht herum: Wo waren Sie von Juni 1923 bis Juni 1930?!«
Pieter van Brouken starrte den Beamten an. Seine Augen wurden starr, aller Glanz wich aus ihnen.
»Welchen Tag schreiben wir heute?« sagte van Brouken leise. Seine Stimme war heiser, rissig.
»Den 29. Juni 1930 …«
Da sackte Pieter van Brouken zusammen. Sein Kopf fiel zur Seite auf den Schoß Ferdinand Brox'.
»Schnell zum Präsidium!« schrie Felix Trambaeren. »Wir haben ihn soweit!«
Amsterdam und mit ihm die ganzen Niederlande hatten ihre Sensation! Die Morgenzeitungen wurden den Trägern und Verkäufern noch druckfeucht aus der Hand gerissen, in den Nachrichten nahm die Meldung des Falles Pieter van Brouken die erste Stelle vor den politischen Meldungen ein – etwas, was es seit Bestehen des Rundfunks noch nicht gegeben hatte! –, und die Bildreporter aller großen europäischen Illustrierten belagerten die kleine Wohnung in der Noorderstraat oder die Sparkasse von Amsterdam, um wenigstens ein kleines Bild des Mannes zu erjagen, der zum größten Rätsel seiner Zeit geworden war.
Die ›Nieuwe Rotterdamsche Courant‹ brachte auf der Titelseite mit einem roten
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