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Der Mann im Labyrinth

Der Mann im Labyrinth

Titel: Der Mann im Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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können nirgendwo eine Abweichung entdecken. Es tut mir wirklich ausgesprochen leid.“
     
     
5
     
    Ihm hatten neun Jahre zur Verfügung gestanden, um seine Erinnerungen zu ordnen und Lücken zu schließen. Einige Würfel hatte er mit ihnen gefüllt. Aber das war nur in den ersten Jahren seines Exils geschehen, als er sich noch darum gesorgt hatte, seine Vergangenheit könne sich im Nebel des Vergessens verlieren. Er entdeckte, daß die Erinnerungen im Alter deutlicher wurden. Vielleicht lag das aber auch an seinem Training. Aus dem Gedächtnis konnte er jederzeit Formen und Farben, Geräusche, Geschmäcke und Gerüche abrufen. Er konnte ganze Gespräche nahezu lückenlos rekonstruieren. Er konnte den vollen Text von etlichen Verträgen zitieren, die er abgeschlossen hatte. Er konnte alle englischen Könige in der richtigen Reihenfolge vom ersten bis zum letzten aufzählen, von Wilhelm dem Eroberer bis zu William VII. Und er erinnerte sich an die Körper aller Mädchen, mit denen er geschlafen hatte.
    Er gestand sich ein, daß er bei der erstbesten Chance zurückkehren würde. Alles andere war nur Selbstbetrug und Heuchelei. Er wußte, er konnte weder sich selbst noch Ned Rawlins täuschen. Die Zweifel, die er an der Menschheit hegte, waren echt, nicht aber sein Wunsch nach Isolation. Ungeduldig wartete er auf Ned Rawlins’ Rückkehr. Während der Wartezeit trank er einige Gläser des Schnapses, den die Stadt sprudeln ließ. Aus Spaß oder Langeweile ging er auf die Jagd und tötete in seinem nervösen Eifer mehr Tiere, als er in einem Jahr verbrauchen konnte. Er führte unverständliche Gespräche mit sich selbst. Er träumte von der Erde.
     
     
6
     
    Rawlins rannte. Muller, der hundert Meter tief in Zone C stand, sah, wie er atemlos und mit gerötetem Kopf durch den Eingang kam.
    „Du solltest hier nicht so rennen“, sagte Muller. „Nicht einmal in den sicheren Zonen. Man weiß wirklich nie, ob …“
    Rawlins ließ sich neben einer vorstehenden Kalksteinwand fallen. Krampfhaft hielt er sich dort fest und rang keuchend nach Atem. „Hol mir etwas zu trinken, ja?“ schnaufte er. „Diesen Schnaps …“
    „Bist du in Ordnung?“
    „Nein.“
    Muller ging zu dem nicht weit entfernt stehenden Brunnen und füllte dort eine kleine Flasche mit dem hochprozentigen Getränk. Rawlins fuhr überhaupt nicht zusammen, als Muller sich ihm wieder näherte, um ihm die Flasche zu geben. Er schien seine Ausstrahlung gar nicht zu bemerken. Gierig leerte Ned die Flasche, verschüttete dabei ein gutes Teil und ließ Tropfen der glitzernden Flüssigkeit über Kinn und Kleider rinnen. Danach schloß er einen Moment die Augen.
    „Du siehst ja furchtbar aus“, sagte Muller. „Als wärst du gerade vergewaltigt worden, würde ich sagen.“
    „So ähnlich.“
    „Was ist denn los?“
    „Warte. Laß mich erst wieder zu Atem kommen. Ich bin den ganzen Weg von Zone F bis hierher gerannt.“
    „Dann kannst du aber von Glück sagen, daß du noch am Leben bist.“
    „Vielleicht.“
    „Noch etwas zu trinken?“
    „Nein“, sagte Rawlins, „im Augenblick nicht.“
    Muller studierte ihn verwirrt. Die Veränderung an ihm war nicht zu übersehen und bestürzend. Bloße Erschöpfung konnte es nicht sein. Die Augen waren blutunterlaufen, das Gesicht stark gerötet und aufgedunsen. Die Gesichtsmuskeln waren außerordentlich verkrampft. Seine Augen rollten wild, so als suchten sie etwas, das sie nicht finden konnten. War er betrunken? Krank? Stand er unter Drogen?
    Rawlins sagte nichts.
    Nach längerem Schweigen machte Muller notgedrungen den Anfang und sagte: „Ich habe viel über unser letztes Gespräch nachgedacht. Und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß ich mich wie ein verdammter Narr aufgeführt habe. Vor allem bei dem dummen, menschenfeindlichen Geschwätz, das ich andauernd aufgetischt habe.“ Muller bückte sich und versuchte, dem jungen Mann in die unruhigen Augen zu sehen. „Hör zu, Ned, ich will das alles zurücknehmen. Ich bin gern bereit, auf die Erde zurückzufliegen und mich dort behandeln zu lassen. Selbst, wenn das Heilverfahren noch nicht ganz ausgereift sein sollte, so will ich es doch versuchen. Im schlimmsten Fall kann man mir eben nicht helfen, und …“
    „Es gibt keine Behandlungsmethode“, sagte Rawlins dumpf.
    „Keine … Behandlungs …“
    „Nein, keine Heilung. Nichts. Es war alles Lüge.“
    „Ja. Sicher.“
    „Du hast es selbst gesagt“, erinnerte Rawlins. „Du wolltest mir kein Wort

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