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Der Mann im Labyrinth

Der Mann im Labyrinth

Titel: Der Mann im Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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einen Strich. Ein kurzes Stück daneben zwei weitere. Und noch ein Stück weiter ritzte er drei Striche. Dann füllte er die Zwischenräume mit Zeichen aus: I + II = III.
    „Seht ihr?“ sagte er. „Wir nennen das Addition.“
    Die Armbündel bewegten sich. Zwei seiner Zuhörer berührten sich. Muller dachte daran, wie sie die Spionsonde zerstört hatten, kurz nachdem sie entdeckt worden war, ohne sich mit einer gründlicheren Erforschung aufzuhalten. Er hatte sich seelisch auf ein ähnliches Schicksal vorbereitet. Aber statt dessen hörten sie ihm zu. Ein vielversprechender Anfang. Er stand auf und deutete auf seine Zeichnung am Boden.
    „Jetzt seid ihr dran“, erklärte er. Er sprach laut und lächelte breit. „Zeigt mir, daß ihr mich verstanden habt. Sprecht mit mir in der universellen Sprache der Mathematik.“
    Zunächst erhielt er keine Antwort.
    Muller zeigte wieder auf die Zeichen. Er deutete auf jedes einzelne Symbol und streckte dann dem nächsten Hydrier die offene Handfläche entgegen.
    Nach einer längeren Pause schwebte einer der anderen Hydrier mühelos gleitend vor und wischte mit einem halbkugelförmigen Fuß über die Zeichen auf dem Boden. Sein Bein bewegte sich nur leicht, doch die Linien verschwanden sofort. Der Fremde glättete die Erde auf dem Boden.
    „Also gut“, sagte Muller, „dann zeichnet ihr etwas für mich.“
    Der Hydrier kehrte zu seinem Platz im Kreis zurück.
    „Auch gut“, sagte Muller, „es gibt noch eine weitere universelle Sprache. Ich hoffe, sie beleidigt eure Ohren nicht.“
    Er zog eine Sopranflöte aus der Tasche und setzte sie an die Lippen. Durch den Schutzanzug gehindert, konnte er keine musikalische Meisterleistung bieten.
    Er atmete tief ein und blies eine atonale Tonleiter. Die Arme der Hydrier flatterten ein wenig. Sie konnten ihn also hören oder zumindest Vibrationen wahrnehmen. Er wechselte auf Moll über und spielte eine weitere Tonleiter. Danach versuchte er es mit einer chromatischen Tonleiter. Sie zeigten sich etwas beeindruckter. Aha, ihr seid also nicht ganz ohne, dachte er, ihr seid Genießer. Vielleicht paßt die Volltonleiter besser zu der Atmosphäre dieses wolkenbedeckten Planeten, sagte er sich. Er führte ihnen mehrere Oktaven vor und bedachte sie auch mit Debussy, um sie zu erfreuen.
    „Ist das nach eurem Geschmack?“ fragte er.
    Sie machten den Eindruck, als diskutierten sie miteinander.
    Dann verließen sie ihn.
    Er versuchte, ihnen zu folgen. Aber er konnte mit ihnen nicht Schritt halten und verlor sie bald im diffusen Licht des Waldes aus den Augen. Aber Muller gab nicht auf. Und ein Stück weiter fand er sie wieder. Sie standen dicht beisammen, als ob sie auf ihn warteten. Als Muller auf sie zuging, setzten sie sich wieder in Bewegung. Auf diese Weise, mit ständig wiederkehrendem Anhalten und Losgehen, führten sie ihn zu ihrer Stadt.
    Muller ernährte sich von Konzentraten und synthetischen Lebensmitteln. Eine Chemoanalyse hatte ihm klargemacht, daß es nicht ratsam sei, von den einheimischen Speisen zu kosten.
    Ungezählte Male zeichnete er für sie den Satz des Pythagoras. Er skizzierte für sie die verschiedenartigsten arithmetischen Grundrechenarten. Er spielte Schönberg und Bach. Er konstruierte gleichseitige Dreiecke. Er führte kompliziertere geometrische Formen vor. Er sprach zu ihnen in Französisch, Russisch, Mandarin und auch Englisch, um ihnen die Mannigfaltigkeit der menschlichen Zunge aufzuzeigen. Er zeigte ihnen Ausschnitte aus dem Periodensystem der Elemente.
    Nach sechs Monaten hatte er noch immer nichts über ihre Denkweise in Erfahrung gebracht.
    Sie tolerierten seine Anwesenheit, sprachen aber niemals ein Wort zu ihm. Wenn sie miteinander kommunizierten, vollzog sich das vornehmlich in raschen, flüchtigen Gesten, kurzen Handbewegungen und leichtem Zucken der Nasenflügel. Offensichtlich besaßen sie eine gesprochene Sprache, aber sie war so leise und gehaucht, daß er keine Silben, geschweige denn Worte heraushören oder unterscheiden konnte. Allerdings nahm er alles, was er hörte, auf seinem Rekorder auf.
    Irgendwann schienen sie seiner überdrüssig zu werden und kamen zu ihm.
    Er schlief.
    Erst lange Zeit später entdeckte er, was sie ihm während seines Schlafs angetan hatten.
     
     
2
     
    Er war achtzehn Jahre alt und lag nackt unter den kalifornischen Sternen. Der ganze Himmel flimmerte. Er glaubte, er brauche nur die Hand auszustrecken, um sie einzeln herabzupflücken.
    Ein Gott sein. Das Universum

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