Der Mann mit den hundert Namen
Appetit. Er dachte nur an Juana und stellte sich das Wiedersehen mit ihr vor. Unaufhörlich zog in seiner Phantasie der letzte gemeinsam verbrachte Abend vor sechs Jahren an ihm vorüber, und er bedauerte noch immer die versäumte Gelegenheit, mit ihr zusammenzubleiben.
Er saß auf einem Sessel, und mit einem Mal war der Raum in Dunkel getaucht. Um den Sonnenuntergang zu bewundern, hatte er die Vorhänge nicht zugezogen. Eben noch war der Himmel blutrot gewesen, jetzt war er pechschwarz. Verwirrt sah er auf die Uhr.
Viertel zehn?
Nein, das war nicht möglich. Die Schatten narrten ihn wohl, er konnte die Zahlen auf dem Leuchtzifferblatt nicht erkennen. Er schaltete die Tischlampe an und sah nochmals auf die Uhr. Nein, er hatte sich nicht geirrt. Unbemerkt waren mehr als drei Stunden vergangen. Mein Gott, dachte er, das ist schon das dritte oder vierte Mal in den letzten drei Tagen. Bin ich denn so geistesabwesend, daß ich meine Umgebung völlig vergesse?
Er begab sich ins Badezimmer und ging dann auf und ab, um wieder ein Gefühl für Bewegung zu bekommen. Als er am Telefon auf der Kommode vorbeikam, sah er bestürzt, daß die kleine rote Warnleuchte aufblinkte.
Aber ich habe doch das Telefon gar nicht läuten hören, dachte er.
Da er befürchtete, sein Kontaktoffizier könnte versucht haben, ihm Instruktionen durchzusagen, wählte er rasch den Operator.
Nach dreimaligem Klingeln meldete sich eine weibliche Stimme. »Zentrale.«
Er gab sich Mühe, ruhig zu sprechen. »Hier Zimmer elf vierzehn. Meine Warnleuchte blinkt auf.«
»Einen Augenblick, Sir, ich sehe mal … Ja. Mrs. Holly Mc-Coy hat um dreiviertel sechs eine Nachricht hinterlassen. Sie lautet: ›Wir wohnen im selben Hotel. Warum treffen wir uns nicht später?‹ Wenn Sie möchten, Sir, kann ich Sie mit dem Zimmer der Dame verbinden.«
»Nein, vielen Dank. Das ist nicht nötig.«
Buchanan legte mit gemischten Gefühlen auf. Er war erleichtert, denn er hatte keine dringende Nachricht seiner Vorgesetzten versäumt. Ebenso beruhigend war es, daß die Mitteilung von Holly McCoy notiert wurde, bevor er in sein Zimmer zurückgekehrt war. Der Journalistin war es also gelungen, sein Hotel ausfindig zu machen. Ihn störte nicht nur ihre Beharrlichkeit, es war noch etwas anderes. Wie war sie auf seine Spur gekommen? War sie so hartnäckig, daß sie in Hunderten von Hotels in und um New Orleans angerufen und sich nach ihm erkundigt hatte?
Als ich das Zimmer buchte, hätte ich einen anderen Namen benutzen sollen, dachte er. Nun mal langsam. Gerade die falschen Namen haben dir das ja eingebrockt. Wenn Holly McCoy gemerkt hätte, daß du ein Zimmer unter einem Pseudonym buchst, dann wäre sie erst recht mißtrauisch geworden.
Deine Vorgesetzten hätten sich gewundert, warum in aller Welt du ein Zimmer unter einem nicht genehmigten Pseudonym reservierst. Du bist hier auf Urlaub, nicht bei einem Einsatz.
Doch eigentlich war es sehr wohl ein Einsatz, und die vereinbarte Zeit für das Treffen war nahegerückt: Er mußte um elf Uhr im Café du Monde sein.
Er vergewisserte sich, daß das graue Sportsakko die Pistole verdeckte, die er hinten in den Gürtel gesteckt hatte, verließ das Zimmer, schloß ab und ging schnell die Feuertreppe hinunter.
11
Auf fast unheimliche Weise ähnelte die Nacht jener Nacht vor sechs Jahren. Wie Buchanan draußen feststellte, lag ein Anflug von Regen in der milden Oktoberluft, und vom Mississippi wehte eine angenehme Brise herüber, genau wie damals.
Sorgfältig hielt er nach Holly McCoy Ausschau. Auf dem Weg durch die Tchoupitoulas Street ging er absichtlich langsam, um nicht aufzufallen, und eine weitere Parallele zu dem Abend vor sechs Jahren drängte sich ihm auf. Es war Halloween. Viele Passanten waren kostümiert, und die beliebteste Verkleidung schien das Skelett zu sein: ein schwarzes, eng anliegendes Gewand mit phosphoreszierenden, aufgemalten Knochen, dazu eine schwarze Larve, auf der in Weiß ein Totenschädel prangte. Da so viele Leute ähnlich aussahen, war er nicht sicher, ob er verfolgt wurde. Holly McCoy brauchte ja nichts weiter zu tun, als eine Maske zu tragen und darunter das auffällige rote Haar zu verbergen.
An diesem Abend fiel Buchanan tatsächlich auf, denn er gehörte zu den wenigen Menschen, die nicht kostümiert waren. Beim Überqueren der Canal Street in Richtung Vieux Carré drang Musik an sein Ohr, erst schwach, dann deutlicher, das anschwellende Dröhnen des Schlagzeugs und die Klage des
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