Der Mann mit den hundert Namen
Blues. Bands auf der Straße standen im Wettstreit mit den Musikern in den Bars. Jazz in vielen Stilen pulsierte durch die engen, bevölkerten Straßen des Französischen Viertels, wo die Halloween-Fans zur Feier der Nacht der Toten tanzten, sangen und tranken.
Buchanan versuchte, in der Menge unterzutauchen. Bis zum Rendezvous am Café du Monde blieb ihm weniger als eine Stunde, und er wollte dies nutzen, um das Treffen mit Juana abzusichern.
Er fand das Gedränge lästig. Es hinderte ihn, so schnell wie möglich voranzukommen und gelegentlich in einem Hof oder einer Gasse zu verschwinden. Jedesmal, wenn er seine Ausweichtaktik anwenden wollte, stand er plötzlich vor einer Gruppe von Menschen, und kein Verfolger hätte Mühe gehabt, ihm auf den Fersen zu bleiben. Einem Straßenhändler kaufte er eine Teufelsmaske ab und merkte sofort, daß sie seine Sicht stark behinderte. Da er mit Leuten zusammenstieß, nahm er sie wieder ab. Jetzt war es fast elf Uhr, er mußte sich zum Café du Monde durchkämpfen.
Am schmiedeeisernen Zaun des Hackson Square entlang ging er bis zur Decatur Street, wartete im Dunkel und behielt den Treffpunkt im Auge.
Hier herrschte zu seinem Erstaunen nicht solch ein Gedränge und Lärm wie in anderen Straßen. Er sah sich mehrmals um – kein Verfolger zu sehen. Und doch fühlte er sich beobachtet. Endlich verließ er seinen Posten, überquerte den Platz und näherte sich dem Café du Monde. Er war, so schien ihm, in die Wirklichkeit zurückgekehrt.
Es war ein großes, massives Gebäude, das durch seine Fassade auffiel; sie bestand aus hohen, breiten Torbogen, die das Café praktisch zum Terrassenlokal machten. Bei heftigem Regen wurde das Innere durch grün-weiß gestreifte Markisen geschützt, doch im allgemeinen – wie an diesem Abend – trennte lediglich ein hüfthohes Eisengeländer die Gäste im Restaurant von den Passanten. Wie vor sechs Jahren war es auch an diesem Abend voller als gewöhnlich, und auf dem Bürgersteig warteten Gäste in langer Reihe geduldig auf Einlaß. Buchanan suchte vergebens nach Juana und hoffte, daß sie sich angesichts der Menschenmenge entschlossen hatte, draußen auf ihn zu warten. Sie würden den Trubel hinter sich lassen und Arm in Arm einen ruhigeren Ort aufsuchen.
Zum Café du Monde gehörte ein Anbau, kleiner als der Hauptteil, mit einem grün-weißen Dach, das von weit auseinanderstehenden weißen Pfosten getragen wurde. Suchend glitt sein Blick über die Leute, die dort eng beieinander um kleine runde Tische saßen. Aber keine Juana. Er wechselte den Standort, um das Innere des Restaurants aus einem anderen Winkel zu sehen, ließ jedoch auch die Schlange der Wartenden nicht aus den Augen.
Was ist nun, wenn sie sich zur Vorsicht auch kostümiert hat, überlegte er. Dann ist sie für mich nicht zu erkennen. Vielleicht nahm sie sich auch einfach Zeit, bevor sie sich ihm näherte. Entschlossen, sie zu finden, betrat er das Restaurant. Sie mußte hier sein. Die Postkarte konnte nichts anderes bedeuten: Sie brauchte seine Hilfe.
»He, Kumpel, anstellen«, rief eine Stimme.
»Sir, warten Sie bitte, bis Sie an der Reihe sind«, forderte ihn ein Kellner auf.
»Verstehen Sie, ich bin mit jemandem verabredet und …«
»Bitte, Sir. Am Ende der Schlange.«
Er trat zurück auf den Bürgersteig. Seine Kopfschmerzen wurden schlimmer, als er, auf den Zehenspitzen stehend, das Gewühl im Inneren überflog. Eine kostümierte Gruppe schob sich an ihm vorbei, er wirbelte herum. Ob vielleicht Juana zu ihnen gehörte?
Das Messer fuhr ihm in die Seite. Scharf, erst kalt, dann heiß. Es war wie ein Faustschlag, und er verlor das Gleichgewicht.
Er stöhnte. Beim Anblick seines Blutes schrie jemand auf. Die Menschen drängten hastig zur Seite, ein Mann stieß ihn an. Buchanan versuchte, den Blutfluß aufzuhalten, und rutschte aus. Das Eisengeländer stürzte scheinbar auf ihn zu.
Nein! schrie er unhörbar. Nicht auf den Kopf! Nicht schon wieder! Ich darf mir nicht den Kopf …!
Achtes Kapitel
1
Cuernavaca, Mexiko
Die schwarze Limousine und die Begleitfahrzeuge rollten im Schneckentempo über die Insurgentes-Sur-Autobahn, denn im Wochenendverkehr vom smogverpesteten Mexico City gen Süden gab es den üblichen Stau. Nach ungefähr sechzig Kilometern erreichte die Kolonne Cuernavaca, den beliebtesten und gleichzeitig teuersten Ferienort der Hauptstädter. Es war nicht schwer zu verstehen, warum die Reichen und Mächtigen an jedem Weekend
Weitere Kostenlose Bücher