Der Mann mit der dunklen Maske
hinter dem Kopf“, verkündete ein anderer Junge mit finsterem Blick.
„Direkt hinter dem Kopf“, verbesserte sich Camille.
„Gibt es noch mehr Schlangen im Museum?“ wollte der interessierte Junge wissen.
„Nur diese eine“, versicherte sie ihm. „Und wenn die Cleopatra-Ausstellung weiterzieht, geht die Schlange mit.“
„Schade. Sie ist das Tollste im ganzen Haus“, sagte einer der anderen Jungen.
„Es gibt hier noch so viel mehr. Seht euch nur um und benutzt eure Fantasie“, riet Camille.
Die Jungen runzelten die Stirn.
„Führen Sie uns herum?“ fragte der wissbegierige Rotschopf. „Bitte“, fügte er noch schnell hinzu.
„Ich kann nicht. Ich muss wieder an meine Arbeit“, erklärte Camille.
„Was machen Sie?“ wollte der Junge wissen.
„Ich übersetze.“
„Sie können die Schriftzeichen in den Gräbern lesen?“ Selbst der Junge, der sich gerade noch verächtlich über das Museum geäußert hatte, war fasziniert.
Sie lächelte und nickte. „Geht nur herum und lest, was auf den Schildern steht. Es ist spannend, wenn ihr eure Fantasie benutzt. Das verspreche ich euch.“
„Lasst uns den Stein von Rosette ansehen“, rief einer der älteren Jungen.
Sie liefen los. Der Rotschopf dankte ihr noch und sah sie geradezu ehrfürchtig an. Lachend winkte Camille ihm nach.
Sie wandte sich noch einmal der Schlange zu. Kobras töteten oft Menschen. Aber sie hatte auch gelernt, dass sie selten angriffen, wenn sie nicht provoziert wurden. Camille betrachtete das Tier. Plötzlich tat es ihr Leid. Es war sicher schmerzhaft gewesen, gegen das Glas zu prallen. Und doch … sie fragte sich, was sie wohl empfinden würde, wenn das Glas nicht da wäre, das sie vor der Giftschlange schützte.
Sie fragte sich, was Lord und Lady Stirling empfunden haben mochten. Hatten sie die Schlange gesehen, die ihnen den qualvollen Tod brachte? Und war es ein trauriger Unfall gewesen … oder tatsächlich Mord? Ein widerlich heimtückischer Mord?
111
6. KAPITEL
C amille war überrascht, dass es ihr gestern so einfach gelungen war, sich von der Arbeit fortzustehlen. Heute Abend allerdings wurde sie begleitet. Hunter, der sich eigentlich nie lange im Museum aufhielt, war an ihrer Seite. Auf der anderen lief Alex. Und Sir John war nur ein paar Schritte hinter ihnen.
Als sie die Straße erreichten, wartete dort schon die große Kutsche des Earls of Carlyle auf sie.
„Fahren Sie nicht!“ flüsterte Alex eindringlich. Er klang fast ein wenig verzweifelt.
„Camille …“, sagte Hunter verlegen. Dann fügte er hinzu, sodass nur sie es hören konnte: „Ich werde Sie heiraten. Ernsthaft.“
„Sie sollte das nicht tun“, sagte Alex laut zu Sir John. „Eine junge Frau allein in der Gesellschaft eines solchen … Untiers“, fügte er lahm hinzu.
„Ach!“ wehrte Sir John ab und schüttelte den Kopf. „Wir sprechen hier immerhin von dem Earl of Carlyle. Er genießt höchsten Respekt, ist ein Kriegsheld und war einst unser aller Freund.“
„Ein Mann, der versehrt, gezeichnet und verbittert ist“, erklärte Hunter. „Sie darf einfach nicht dorthin fahren.“
„Sie muss“, entgegnete Sir John.
„Sie
wird ihre eigene Entscheidung treffen“, erklärte Camille bestimmt. Shelby sprang vom Kutschbock und lächelte. Er verneigte sich, dann öffnete er die Tür, damit sie einsteigen konnte.
Für einen Moment überkam Camille Panik. Hunter MacDonald hatte gerade gesagt, dass er sie heiraten würde. Sollte sie ihn beim Wort nehmen? Er war attraktiv, hoch angesehen und sicher ein Mann mit äußerst verführerischem Charisma. Und sie hatte sich schon so oft zu ihm hingezogen gefühlt …
Aber der Earl of Carlyle, so niederträchtig er auch sein mochte, hielt Tristan gefangen. Und ihr wurde bewusst, dass der Mann, obwohl er sie so frech erpresste und benutzte, etwas an sich hatte, das sie faszinierte. Er nahm keinerlei falsche Rücksicht auf ihr Geschlecht, ihr Alter oder ihre Person. Selbst in seiner Wut, und trotz seiner List, schien er irgendwie aufrichtig zu sein. Camille war neugierig geworden, und sie wollte Antworten finden.
Sie wandte sich zu den Männern um. „Ich danke Ihnen allen. Der Earl of Carlyle hat meinem Vormund seine Gastfreundschaft angeboten, und ich muss gehen.“
Als die Kutsche losrollte, fragte sie sich, was die Männer wohl wirklich dachten und hinter vorsichtigen Worten verbargen.
Evelyn fand Brian in der Bücherei. Er war mal wieder in das Tagebuch vertieft, das seine Mutter
Weitere Kostenlose Bücher