Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
kann gar nichts sagen, aber du mußt etwas für ihn tun.«
»Was soll ich denn tun?«
»Ihn befrein.«
»Du träumst wohl?«
»Du meinst doch alles gar nicht so, wie du es zu Walter sagst?!« fragte Clarisse, und ihre Augen schienen ihn zu einer Antwort zu drängen, deren Inhalt er nicht erraten konnte.
»Ich weiß nicht, was du willst?« sagte er.
Clarisse sah ihm eigensinnig auf die Lippen; dann wiederholte sie: »Du solltest trotzdem das tun, was ich gesagt habe; du würdest verwandelt werden.«
Ulrich betrachtete sie. Er begriff nicht recht. Er mußte etwas überhört haben; einen Vergleich oder irgendein W iewenn, das ihrer Rede Sinn gab. Es klang sehr sonderbar, sie ohne diesen Sinn so natürlich sprechen zu hören, als handelte es sich um eine gewöhnliche Erfahrung, die sie gemacht habe.
Aber da kehrte Walter zurück. »Ich kann dir ja zugeben –« begann er. Die Unterbrechung hatte das Gespräch entschärft.
Er saß wieder auf seinem Stühlchen am Klavier und sah befriedigt seine Schuhe an, an denen Erde haftete. Er dachte: »Warum haftet an Ulrichs Schuh keine Erde? Sie ist die letzte Rettung des europäischen Menschen.«
Ulrich aber sah die Beine über Walters Schuhen an; sie staken in schwarzen Strümpfen aus Baumwolle und hatten die unschöne Form weicher Mädchenbeine. »Man muß es schätzen, wenn ein Mann heute noch das Bestreben hat, etwas Ganzes zu sein« sagte Walter.
»Das gibt es nicht mehr« meinte Ulrich. »Du brauchst bloß in eine Zeitung hineinzusehn. Sie ist von einer unermeßlichen Undurchsichtigkeit erfüllt. Da ist die Rede von so viel Dingen, daß es das Denkvermögen eines Leibniz überschritte. Aber man merkt es nicht einmal; man ist anders geworden. Es steht nicht mehr ein ganzer Mensch einer ganzen Welt gegenüber, sondern ein menschliches Etwas bewegt sich in einer allgemeinen Nährflüssigkeit.«
»Sehr richtig,« sagte Walter sofort. »Es gibt eben keine ganze Bildung mehr im Goetheschen Sinn. Aber darum gibt es heute auch zu jedem Gedanken einen Gegengedanken und zu jeder Neigung gleich die entgegengesetzte. Jede Tat und ihr Gegenteil finden heute im Intellekt die scharfsinnigsten Gründe, mit denen man sie sowohl verteidigen wie verurteilen kann. Ich begreife nicht, wie du das in Schutz nehmen magst!«
Ulrich zuckte die Achseln.
»Man muß sich ganz zurückziehn« sagte Walter leise.
»Es geht doch auch so« erwiderte ihm der Freund. »Vielleicht sind wir auf dem Weg zum Ameisenstaat oder irgend einer anderen unchristlichen Aufteilung der Leistungen.« Ulrich bemerkte bei sich, daß man ebensogut übereinstimmen könne wie sich streiten. In der Höflichkeit lag die Verachtung so klar wie ein Leckerbissen in Aspik. Er wußte, daß auch seine letzten Worte Walter ärgern mußten, aber er begann sich danach zu sehnen, einmal mit einem Menschen zu sprechen, mit dem er ganz übereinstimmen könnte. Solche Gespräche hatte es zwischen Walter und ihm einst gegeben. Da werden die Worte von einer geheimen Kraft aus der Brust geholt, und keines verfehlt sein Ziel. Wenn man dagegen mit Abneigung spricht, steigen sie wie Nebel von einer Eisfläche auf. Er sah Walter ohne Groll an. Er war sicher, daß auch der das Gefühl hatte, sich durch dieses Gespräch, je weiter es gehe, desto mehr in seiner inneren Meinung zu verunstalten, aber die Schuld daran ihm beimaß. »Alles, was man denkt, ist entweder Zuneigung oder Abneigung!« dachte Ulrich. Das kam ihm in diesem Augenblick so lebhaft als richtig vor, daß er es wie einen körperlichen Zwang empfand, ähnlich dem berührenden Schwanken eng aneinander geschlossener Menschen. Er sah sich nach Clarisse um.
Aber Clarisse hörte scheinbar schon seit längerem nicht mehr zu; sie hatte irgendwann die Zeitung aufgenommen, die vor ihr auf dem Tisch gelegen war; dann hatte sie in sich geforscht, warum ihr das ein so tiefes Vergnügen mache. Sie fühlte die unermeßliche Undurchsichtigkeit, von der Ulrich gesprochen hatte, vor den Augen und Zeitung zwischen den Händen. Die Arme entfalteten die Dunkelheit und öffneten sich selbst. Die Arme bildeten mit dem Stamm des Leibes zwei Kreuzbalken, und dazwischen hing die Zeitung. Das war das Vergnügen, aber die Worte, mit denen es zu beschreiben ist, kamen nicht in Clarisse vor. Sie wußte bloß, daß sie auf die Zeitung sah, ohne zu lesen, und daß ihr vorkam, in Ulrich stecke etwas barbarisch Geheimnisvolles, eine ihr selbst verwandte Kraft, ohne daß ihr etwas Genaueres darüber
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