Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
einfiel. Ihre Lippen hatten sich zwar geöffnet, als ob sie lächeln würde, aber es geschah ohne Bewußtsein, nur in lose erstarrter Spannung.
Walter fuhr leise fort: »Du hast recht, wenn du sagst, daß heute nichts mehr ernst, vernünftig oder auch nur durchschaubar ist; aber warum willst du nicht verstehen, daß gerade die steigende Vernünftigkeit, die das Ganze durchseucht, schuld daran ist. In alle Gehirne hat sich das Verlangen gelegt, immer vernünftiger zu werden, mehr denn je das Leben zu rationalisieren und zu spezialisieren, und zugleich das Unvermögen, sich denken zu können, was aus uns werden soll, wenn wir alles erkennen, zerteilen, typisieren, in Maschinen verwandeln und normen. Es kann so nicht weitergehn.«
»Mein Gott,« antwortete Ulrich gleichmütig »der Christ der Mönchszeiten hat gläubig sein müssen, obwohl er sich nur einen Himmel denken konnte, der mit seinen Wolken und Harfen etwas langweilig war; und wir fürchten uns vor dem Himmel der Vernunft, der uns an die Lineale, geraden Bänke und entsetzlichen Kreidefiguren der Schulzeit erinnert.«
»Ich habe das Gefühl, daß eine zügellose Ausschreitung der Phantastik die Folge sein wird« fügte Walter nachdenklich hinzu. Es war eine kleine Feigheit und List in dieser Rede. Er dachte an das geheimnisvolle Widervernünftige in Clarisse, und während er von der Vernunft sprach, die es zu Ausschreitungen treibe, dachte er an Ulrich. Die beiden anderen nahmen es nicht wahr, und das gab ihm den Schmerz und den Triumph des Unverstandenen. Er würde Ulrich am liebsten gebeten haben, solange er in der Stadt weile, sein Haus nicht mehr zu betreten, wenn es nur, ohne einen Aufstand bei Clarisse zu erregen, möglich gewesen wäre.
So sahen die beiden Männer Clarisse schweigend zu.
Clarisse bemerkte plötzlich, daß sie nicht mehr stritten, rieb sich die Augen und blinzelte Ulrich und Walter freundlich an, die von gelbem Licht bestrahlt, wie in einem Glasschrank vor den abendblauen Fensterscheiben saßen.
55
Soliman und Arnheim
DER MÄDCHENMÖRDER Christian Moosbrugger besaß aber noch eine zweite Freundin. Die Frage seiner Schuld oder seines Leidens hatte vor einigen Wochen ihr Herz so lebhaft ergriffen wie das vieler anderer, und sie hatte eine Auffassung des Falls, die von der gerichtlichen etwas abwich. Der Name Christian Moosbrugger gefiel ihr wohl, und sie stellte sich darunter einen einsamen, hochgewachsenen Mann vor, der an einer moosüberwachsenen Mühle saß und dem Donnern des Wassers lauschte. Sie war fest überzeugt, daß sich auf eine ganz unerwartete Weise die Beschuldigungen aufklären würden, die man gegen ihn erhob. Wenn sie in der Küche oder im Speisezimmer mit ihrer Näharbeit saß, kam es vor, daß Moosbrugger, nachdem er seine Ketten abgeschüttelt hatte, neben sie trat, und dann spannen sich ganz wilde Phantasien an. Es war in ihnen keineswegs ausgeschlossen, daß Christian, wenn er sie, Rachel, rechtzeitig kennen gelernt hätte, seine Laufbahn als Mädchenmörder aufgegeben und sich als ein Räuberhauptmann von ungeheurer Zukunft entpuppt haben würde.
Dieser arme Mann in seinem Kerker ahnte das Herz nicht, das, über Diotima auszubessernde Wäsche gebeugt, für ihn klopfte. Es war gar nicht weit von der Wohnung des Sektionschefs Tuzzi zum Landesgericht. Von einem Dach zum anderen würde ein Adler nur wenige Flügelschläge gebraucht haben; aber der modernen Seele, die Ozeane und Kontinente spielend überbrückt, ist nichts so unmöglich, wie die Verbindung zu den Seelen zu finden, die um die nächste Ecke wohnen.
So hatten sich die magnetischen Ströme wieder aufgelöst, und Rachel liebte seit einiger Zeit die Parallelaktion statt Moosbruggers. Selbst wenn in den Zimmern drinnen die Dinge nicht ganz so in Gang kamen, wie sie sollten, ging in den Vorzimmern ungemein viel vor sich. Rachel, die früher immer Muße gefunden hatte, die Zeitungen zu lesen, die von der Herrschaft in die Küche gelangten, kam nicht mehr dazu, seit sie von früh bis spät als kleine Schildwache vor der Parallelaktion stand. Sie liebte Diotima, Sektionschef Tuzzi, Se. Erlaucht Graf Leinsdorf, den Nabob, und seit sie bemerkt hatte, daß er eine Rolle in diesem Hause zu spielen beginne, auch Ulrich; so liebt ein Hund die Freunde seines Hauses mit einem Gefühl und doch verschiedenen Gerüchen, die aufregende Abwechslung bedeuten. Aber Rachel war klug. An Ulrich zum Beispiel bemerkte sie recht wohl, daß er immer ein wenig in Gegensatz zu
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