Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
kleine Welt entflammen, denn sie haben weder einen Zweck noch eine Möglichkeit, irgend etwas zu bewirken, und sind ganz und gar grenzenloses Feuer; es paßte schlecht zu Ulrich, aber nach diesen Gefühlen der Kindheit, die er sich kaum noch vorstellen konnte, weil sie mit den Bedingungen, unter denen ein Erwachsener lebt, so wenig mehr gemein haben, sehnte er sich schließlich in Gesellschaft Diotimas.
Und einmal fehlte nicht viel daran, daß er es ihr eingestanden hätte. Sie hatten auf einer Fahrt den Wagen verlassen und gingen zu Fuß in ein kleines Tal hinein, das wie eine Flußmündung aus Wiesen mit bewaldeten Steilufern war und ein krummes Dreieck bildete, in dessen Mitte ein geschlängelter, von leichtem Frost erstarrter Bach lag. Die Hänge waren teilweis abgeholzt, mit einzelnen stehen gelassenen Bäumen, die auf den Kahlschlägen und Hügelkämmen wie eingepflanzte Federwimpel aussahen. Diese Landschaft hatte sie zum Gehen verlockt; es war einer jener rührenden schneefreien Tage, die mitten im Winter wie ein verblaßtes, aus der Mode gekommenes Sommerkleid anzusehen sind. Diotima fragte plötzlich ihren Vetter: »Warum nennt Sie Arnheim eigentlich einen Aktivisten? Er sagt, Sie hätten immer den Kopf voll davon, wie die Dinge anders und besser zu machen wären.« Sie hatte sich mit einemmal erinnert, daß ihr Gespräch mit Arnheim über Ulrich und den General geendet hatte, ohne einen Abschluß zu finden. »Ich verstehe das nicht,« fuhr sie fort »denn mir kommt vor, daß Sie selten etwas ernst meinen. Aber ich muß Sie fragen, da wir eine verantwortungsvolle Aufgabe gemeinsam haben! Erinnern Sie sich noch an unser letztes Gespräch? Sie haben da etwas gesagt, Sie haben behauptet, niemand würde, wenn er alle Macht hätte, das verwirklichen, was er will. Ich möchte jetzt wissen, wie Sie das gemeint haben. War denn das nicht ein entsetzlicher Gedanke?«
Ulrich schwieg zunächst. Und während dieser Stille, nachdem sie ihre Rede so keck wie möglich vorgebracht hatte, wurde ihr klar, wie lebhaft sie die unerlaubte Frage beschäftigte, ob Arnheim und sie das verwirklichen würden, was sie jeder im geheimen wollten. Sie glaubte plötzlich, daß sie sich vor Ulrich verraten habe. Sie wurde rot, suchte es zu verhindern, wurde noch röter und trachtete, mit möglichst unbeteiligtem Ausdruck über das Tal von ihm fortzublicken.
Ulrich hatte den Vorgang beobachtet. »Ich fürchte sehr, daß der einzige Grund, warum mich Arnheim, wie Sie sagen, einen Aktivisten nennt, der ist, daß er meinen Einfluß im Hause Tuzzi überschätzt« erwiderte er. »Sie wissen selbst, wie wenig Sie auf meine Worte geben. Aber in dem Augenblick jetzt, wo Sie mich gefragt haben, ist mir klar geworden, welchen Einfluß ich auf Sie haben sollte. Darf ich es Ihnen sagen, ohne daß Sie mich sofort wieder tadeln?«
Diotima nickte stumm, zum Zeichen des Einverständnisses und suchte sich hinter dem Anschein der Zerstreutheit wieder zu sammeln.
»Ich habe also behauptet,« begann Ulrich »niemand würde, auch wenn er könnte, verwirklichen, was er will. Erinnern Sie sich an unsere Mappen voll Vorschläge? Und nun frage ich Sie: Würde irgendeiner nicht in Verlegenheit geraten, wenn plötzlich das geschehen sollte, was er sein Leben lang leidenschaftlich gefordert hat? Wenn zum Beispiel plötzlich über die Katholiken das Gottesreich hereinbräche oder über die Sozialisten der Zukunftsstaat? Aber vielleicht beweist das nichts; man gewöhnt sich an das Fordern und ist nicht gleich darauf gefaßt, ans Verwirklichen zu kommen; vielleicht werden das viele nur natürlich finden. Ich frage also weiter: Ohne Zweifel hält ein Musiker die Musik für das Wichtigste, und ein Maler das Malen; wahrscheinlich sogar ein Betonfachmann das Bauen von Betonhäusern. Glauben Sie, daß der eine sich darum den lieben Gott als einen Spezialfachmann für Eisenbeton vorstellen wird und die anderen eine gemalte oder auf dem Flügelhorn geblasene Welt der wirklichen vorziehen? Sie werden diese Frage für unsinnig halten, aber der ganze Ernst liegt darin, daß man doch dieses Unsinnige verlangen müßte!
Und jetzt glauben Sie, bitte, nicht,« wandte er sich ihr vollkommen ernst zu »daß ich damit nichts anderes sagen will, als daß jeden das schwer zu Verwirklichende reizt und daß er das verschmäht, was er wirklich haben kann. Ich will sagen: daß in der Wirklichkeit ein unsinniges Verlangen nach Unwirklichkeit steckt!«
Er hatte Diotima weit in das kleine
Weitere Kostenlose Bücher