Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
daß ich mir überhaupt nichts dabei gedacht habe; ich nahm ungefähr an, daß es mit seinen literarischen Neigungen zusammenhänge. Übrigens wäre das doch wohl auch möglich.«
Der Sektionschef gönnte dem bloß ein zerstreutes Lächeln. »Dann müßten Sie mir erklären, aus welchem Grund ein Mann wie Arnheim literarische Neigungen besitzt?« fragte er; aber er bereute es augenblicklich, denn der Vetter holte schon wieder zu einer breiten Antwort aus. »Ist Ihnen noch nicht aufgefallen,« sagte er »daß heutzutage merkwürdig viel Menschen auf der Straße mit sich selbst reden?«
Tuzzi zuckte gleichgültig die Achseln.
»Etwas stimmt mit ihnen nicht. Sie können offenbar ihre Erlebnisse nicht ganz erleben oder in sich einleben und müssen Reste davon abgeben. Und so, denke ich mir, entsteht auch ein übertriebenes Bedürfnis, zu schreiben. Vielleicht sieht man das nicht so deutlich am Schreiben selbst, denn da kommt je nach Talent und Übung etwas zustande, das weit über seinen Ursprung hinauswächst, aber am Lesen ist es ganz unzweideutig kenntlich: beinahe kein Mensch liest heute noch, jeder benützt den Schriftsteller nur, um in der Form von Zustimmung oder Ablehnung auf eine perverse Weise seinen eigenen Überschuß an ihm abzustreifen.«
»Sie meinen also, daß in Arnheims Leben etwas nicht stimmt?« fragte Tuzzi nun doch mit Aufmerksamkeit. »Ich habe in der letzten Zeit seine Bücher gelesen, rein aus Neugierde, weil ihm viele Leute so große politische Chancen geben; ich muß aber gestehn, daß ich weder ihre Notwendigkeit noch ihren Zweck einsehe.«
»Man könnte die Frage viel allgemeiner stellen« meinte der Vetter. »Wenn ein Mensch so reich an Geld und Einfluß ist, daß er alles wirklich haben kann, warum schreibt er dann? Eigentlich müßte ich ganz naiv fragen, warum alle Berufserzähler schreiben? Sie erzählen etwas, das es nicht gegeben hat; so, als ob es das gegeben hätte. Das ist offenbar. Aber bewundern sie nun das Leben wie die Schnorrer den reichen Mann, die sich nicht genug tun können, davon zu erzählen, wie wenig es ihm auf sie ankommt? Oder käuen sie wiederholend wieder? Oder treiben sie Glücksdiebstahl, indem sie etwas, das sie in Wirklichkeit nicht erreichen oder nicht ertragen können, in der Phantasie herstellen?«
»Haben Sie selbst nie geschrieben?« unterbrach ihn Tuzzi.
»Zu meiner Beunruhigung nie. Denn ich bin keineswegs so glücklich, daß ich es nicht tun müßte. Ich habe mir vorgenommen, wenn ich nicht bald das Bedürfnis danach empfinden sollte, mich wegen ganz und gar abnormer Veranlagung zu töten!«
Er sagte das mit einer so ernsten Liebenswürdigkeit, daß sich dieser Scherz aus dem Fluß des Gesprächs, ohne daß er es wollte, heraushob, wie ein überströmter Stein auftaucht.
Tuzzi bemerkte es, und sein Taktgefühl ließ ihn rasch den Zusammenhang wiederherstellen. »Also alles in allem« stellte er fest »sagen Sie damit das gleiche wie ich, wenn ich behaupte, daß Beamte erst zu schreiben anfangen, wenn sie in Pension gehn. Aber wie stimmt das auf Dr. Arnheim?«
Der Vetter schwieg.
»Wissen Sie, daß Arnheim vollkommen pessimistisch und gar nicht ‚à la hausse‘ von dem Unternehmen hier denkt, an dem er sich so aufopfernd beteiligt?!« sagte Tuzzi plötzlich mit gesenkter Stimme. Er hatte sich mit einemmal erinnert, wie sich Arnheim ganz zu Beginn im Gespräch mit ihm und seiner Gattin sehr zweifelnd über die Aussichten der Parallelaktion ausgelassen hatte, und daß ihm das nach so langer Zeit gerade in diesem Augenblick einfiel, kam ihm, er wußte selbst nicht wie, aber es kam ihm als ein Erfolg seiner Diplomatie vor, obwohl er über die Gründe von Arnheims Aufenthalt bisher so gut wie noch nichts hatte in Erfahrung bringen können.
Der Vetter machte in der Tat ein überraschtes Gesicht.
Vielleicht nur aus Liebenswürdigkeit, weil er noch schweigen wollte. Aber jedenfalls behielten beide Herrn auf diese Weise, als sie unmittelbar danach durch Gäste, die sich ihnen näherten, getrennt wurden, den Eindruck eines anregenden Gesprächs.
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Aus den Lebensregeln reicher Leute
SOVIEL AUFMERKSAMKEIT und Bewunderung, wie Arnheim sie fand, hätte einen anderen Mann vielleicht mißtrauisch und unsicher gemacht; er hätte sich einbilden können, sie seinem Gelde zu verdanken. Aber Arnheim hielt Mißtrauen für ein Zeichen von unadeliger Gesinnung, das sich ein Mann auf seiner Höhe nur auf Grund eindeutiger kaufmännischer Auskünfte gestatten
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