Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
geringschätziger von ihr sprach, als er es meinte; denn für Walter und Clarisse war sie zu jener Zeit höchste Hoffnung und Angst. Sie verachteten ihn teils dafür, teils verehrten sie ihn wie einen bösen Geist.
Als diesmal das Spiel endete, blieb Walter weich, ausgelaufen und verloren auf seinem halb umgedrehten Schemel vor dem Klavier sitzen, Clarisse aber stand auf und begrüßte lebhaft den Eindringling In ihren Händen und ihrem Gesicht zuckte noch die elektrische Ladung des Spiels, ihr Lächeln zwängte sich zwischen einer Spannung von Begeisterung und Ekel durch.
»Froschkönig!« sagte sie, und ihr Kopf deutete hinter sich auf die Musik oder Walter. Ulrich fühlte die federnde Kraft des Bandes zwischen sich und ihr wieder gespannt. Sie hatte ihm bei seinem letzten Besuch von einem furchtbaren Traum erzählt; ein schlüpfriges Geschöpf wollte sie im Schlaf überwältigen, es war bauchig-weich, zärtlich und grauenvoll, und dieser große Frosch bedeutete Walters Musik. Die beiden Freunde wahrten vor Ulrich nicht viel Geheimnisse. Kaum hatte Clarisse ihn nun begrüßt, so wandte sie sich auch schon wieder von ihm ab, kehrte rasch zu Walter zurück, stieß abermals ihren Kriegsruf Froschkönig aus, den Walter, wie es schien, nicht begriff, und riß ihn mit ihren noch von der Musik zuckenden Händen schmerzlich und schmerzend wild an den Haaren. Ihr Gatte machte ein liebenswürdig verdutztes Gesicht und kehrte um einen Schritt näher aus der schlüpfrigen Leere der Musik zurück.
Dann gingen Clarisse und Ulrich ohne ihn im schrägen Pfeilregen der Abendsonne spazieren; er blieb am Klavier zurück. Clarisse sagte: »Sich etwas Schädliches verbieten können, ist die Probe der Lebenskraft! Den Erschöpften lockt das Schädliche! – Was meinst du dazu? Nietzsche behauptet, daß es ein Zeichen von Schwäche ist, wenn sich ein Künstler zuviel mit der Moral seiner Kunst beschäftigt?« Sie hatte sich auf einen kleinen Erdhügel gesetzt.
Ulrich zuckte die Achseln. Als Clarisse vor drei Jahren seinen Jugendfreund heiratete, war sie zweiundzwanzig Jahre alt gewesen, und er selbst hatte ihr zur Hochzeit die Werke Nietzsches geschenkt. »Wenn ich Walter wäre, würde ich Nietzsche zum Duell herausfordern« antwortete er lächelnd.
Clarissens schlanker, in zarten Linien unter dem Kleid schwebender Rücken spannte sich wie ein Bogen, und auch ihr Gesicht war gewaltsam gespannt; sie hielt es von dem des Freundes ängstlich abgewandt.
»Du bist noch immer mädchen- und heldenhaft zugleich …« fügte Ulrich hinzu; es war eine Frage oder auch keine, ein wenig Scherz, aber auch ein wenig zärtliche Verwunderung; Clarisse verstand nicht ganz, was er meine, aber die beiden Worte, die er schon einmal gebraucht hatte, bohrten sich in sie wie ein Brandpfeil in ein Strohdach.
Hie und da kam eine Welle planlos aufgewühlter Töne zu ihnen herüber. Ulrich wußte, daß sie sich Walter wochenlang verweigerte, wenn er Wagner spielte. Trotzdem spielte er Wagner; mit schlechtem Gewissen; wie ein Knabenlaster.
Clarisse hätte gerne Ulrich gefragt, wie viel er davon wisse; Walter konnte nie etwas für sich behalten; aber sie schämte sich zu fragen. Nun hatte sich auch Ulrich auf einen kleinen Erdhügel in ihre Nähe gesetzt, und endlich sagte sie etwas ganz anderes. »Du liebst Walter nicht« sagte sie. »Du bist in Wahrheit nicht sein Freund.« Es klang herausfordernd, aber sie lachte dazu.
Ulrich gab eine unerwartete Antwort. »Wir sind eben Jugendfreunde. Du bist noch ein Kind gewesen, Clarisse, als wir uns schon in dem unverkennbaren Verhältnis einer ausgehenden Jugendfreundschaft befanden. Wir haben uns vor unzählig vielen Jahren gegenseitig bewundert, und jetzt mißtrauen wir einander mit inniger Kenntnis. Jeder möchte sich von dem peinlichen Eindruck befreien, daß er den anderen einst mit sich selbst verwechselt hat, und so leisten wir uns den Dienst unbestechlicher Zerrspiegel.«
»Du glaubst also nicht,« sagte Clarisse »daß er doch noch etwas erreichen wird?«
»Es gibt kein zweites solches Beispiel der Unentrinnbarkeit wie das, das ein begabter junger Mensch bietet, wenn er sich zu einem gewöhnlichen alten Menschen einengt; ohne Schlag des Schicksals, nur durch die Einschrumpfung, die ihm vorher bestimmt war!«
Clarisse schloß die Lippen fest aufeinander. Das alte Jugendübereinkommen zwischen ihnen, daß Überzeugung vor Rücksicht gehe, preßte ihr das Herz hoch, aber es schmerzte. Musik! Immerzu
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