Der Zeitenherrscher
Simon rannte. Jagte davon. Seine Lunge drohte zu zerplatzen. Seine Beine spürte er schon lange Zeit nicht mehr. Alles in ihm wehrte sich gegen diese Anstrengung.
Doch er musste rennen. Weiter und weiter.
Den Blick starr vor sich auf die Straße gerichtet, lief er um sein Leben. Er war auf der Flucht, und er kannte seine Verfolger. Ebenso, wie er sich bewusst war, dass sie aufholten.
Simon kämpfte gegen die Erschöpfung und gegen die Schmerzen an. Er mühte sich weiter, Schritt für Schritt, den Blick fest auf die Straße geheftet.
Doch plötzlich schnitt ihm etwas ins Ohr. Simon schrie auf und warf den Kopf in den Nacken. Eine riesige Krähe war dicht an ihm vorbeigeflogen und hatte ihn mit ihren scharfen Flügelspitzen gestreift. Simon verfolgte ihren Flug mit seinen Blicken. Die Krähe beschrieb einen weiten Bogen, dann kam sie direkt auf Simon zugeflogen.
Sie gehörte zu seinen Verfolgern. Mit einem ohrenbetäubenden Krächzen kam sie auf den Jungen zugestürzt. Simon duckte sich und spürte ihren Luftzug im Gesicht, als sie über ihn hinwegfegte. Noch immer behielt Simon sie im Blick. Er drehte den Kopf, sah der Krähe hinterher, und im gleichen Augenblick bemerkte er seinen zweiten Verfolger. Nur wenige Schritte von ihm entfernt.
Im Licht der Nacht erkannte er hinter sich nur einen Schatten, der ihn verfolgte. Einen Schatten und dessen schneeweiße Hände, die aus dem schwarzen Umhang hervorschauten und sich im Mondlicht spiegelten: lange, spindeldürre Finger, die sich nach Simon reckten. Und weit hinter ihm, im Dunkel der Nacht kaum auszumachen, ein Schiff auf dem Meer, mit brennenden Fackeln auf seinen zwei Mastspitzen.
Schnell wandte Simon wieder den Kopf und hielt den Blick auf die Straße gesenkt. Da spürte er, wie er gepackt wurde. Wie sich eine Macht um seinen ganzen Körper legte, ihn einschnürte und ihm jede Bewegungsmöglichkeit nahm.
Simon schrie auf. Er versuchte, sich zu wehren, versuchte zu kämpfen, doch er war gefangen.
„Simon!“
Der Junge wandte den Kopf, versuchte weiter, sich zu befreien, doch …
„Du hast geschrien!“
Diese Stimme – so vertraut.
Er japste nach Luft, konnte sich noch immer nicht bewegen.
„Simon! Was ist mit dir?“
Allmählich schwanden die Bilder vor seinen Augen, und er kam zu sich. Er blickte verwirrt um sich, in die Richtung, aus der die Stimme kam. Seine Mutter saß neben ihm und sah ihn voller Sorge an. Ihre Hand ruhte auf seiner Schulter. „Albträume?“, fragte sie.
Simon sah an sich herunter. Er hatte sich im Schlaf so sehr in seiner Bettdecke gewunden, dass sie ihn wie eine zweite Haut umspannte und ihm jede Möglichkeit zur Bewegung nahm. Also doch kein Zauber, in dem er gefangen war. Seine eigene Decke hatte ihm einen Streich gespielt.
Nun kam auch sein Vater ins Zimmer gestürzt. Er rieb sich schlaftrunken die Augen. Dann warf er einen Blick auf seinen Sohn, der völlig verstört in seinem Bett lag. „Wieder Albträume?“, fragte auch er sofort, und Simon nickte stumm.
„Was ist nur mit dir los?“ Simons Mutter half, ihn aus der Bettdecke zu befreien. „Immer wieder diese Träume. Es war ja einige Zeit wirklich besser, und ich dachte schon, das hörtvon alleine auf. Aber in den letzten Wochen … beinahe jede Nacht …“
Simon blickte hilflos in die besorgten Gesichter seiner Eltern. Wie hätte er ihnen das alles erklären sollen? Wie hätte er ihnen sagen können, dass er bereits seit langer Zeit auf diese Träume gewartet hatte? Dass er diese Bilder kannte. Ja, dass er sie herbeigesehnt hatte?
Diese Träume waren Zeichen. Sie waren seine Verbindung. Wie ein Rufen aus der Unendlichkeit der Zeit. Und Simon wollte auf dieses Rufen antworten.
Er war bereit.
Langsam erhob er sich von seinem Bett. „Es geht schon wieder“, sagte er mit belegter Stimme. „Vielleicht hab ich gestern Abend nur etwas Falsches gegessen oder getrunken. Oder …“
„Klar!“, erwiderte der Vater. „Das wird es sein. Das Glas Milch zum Abendessen war bestimmt von einer Monsterkuh. Und deshalb bekommst du auch Monsterträume und …“
„He!“, unterbrach ihn Simons Mutter mit strengem Blick. Doch die Stimmung im Zimmer entspannte sich spürbar, und ihr war anzusehen, dass sie ihrem Mann sehr dankbar für seine Sprüche war.
„Es geht schon wieder“, brachte Simon hervor, und ohne einen weiteren Blick auf seine Eltern ging er ins Bad.
Endlich!
Das schrille Klingeln der Schulglocke. Schulschluss!
Hastig packte Simon seine Sachen
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