Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
festgestellt, daß nichts veranlaßt werden könne; so gab es unaufhörlich etwas zu tun. Es gab außerdem unzählig viele Nebenrücksichten zu beachten. Man arbeitete ja mit allen verschiedenen Ministerien Hand in Hand; man wollte die Kirche nicht verletzen; man mußte gewissen Personen und gesellschaftlichen Beziehungen Rechnung tragen: mit einem Wort, auch an Tagen, wo man nichts besonderes tat, durfte man so vieles nicht tun, daß man den Eindruck großer Tätigkeit hatte. Se. Erlaucht wußte das richtig zu schätzen. »Je höher ein Mann vom Schicksal gestellt wird,« pflegte er zu sagen »desto deutlicher erkennt er, daß es nur auf wenige, einfache Grundsätze, aber auf festen Willen und ein planmäßiges Tun ankommt.« Und einmal ließ er sich seinem »jungen Freund« gegenüber auch näher über diese Erfahrung aus. Er knüpfte an die deutschen Einheitsbestrebungen an und gab zu, daß zwischen Achtzehnhundertachtundvierzigundsechsundsechzig eine Menge der gescheitesten Leute in die Politik dareingeredet hätten; »aber dann« fuhr er fort »ist dieser Bismarck gekommen, und das eine Gute hat er jedenfalls gehabt, daß er gezeigt hat, wie man Politik machen muß: Nicht mit Reden und Gescheitheit! Trotz seiner Schattenseiten hat er erreicht, daß seit seiner Zeit, so weit die deutsche Zunge reicht, jeder Mensch weiß, daß in der Politik von Gescheitheit und Reden nichts zu erhoffen ist, sondern nur von schweigender Überlegung und Tat!« Ähnliche Äußerungen tat Graf Leinsdorf auch auf dem Konzil, und die Vertreter der auswärtigen Mächte, die dort zuweilen ihre Beobachter hatten, fanden es schwer, sich von seinen Absichten ein zutreffendes Bild zu machen. Man maß der Teilnahme Arnheims Wichtigkeit bei so wie der Stellung des Sektionschefs Tuzzi und schloß im allgemeinen daraus, daß unter diesen beiden Männern und dem Grafen Leinsdorf ein geheimes Einvernehmen bestehe, dessen politisches Ziel vorläufig hinter lebhaften Ablenkungen der Aufmerksamkeit verborgen werde, die Frau Sektionschef Tuzzi durch ihre pankulturellen Bestrebungen liefere. Bedenkt man diesen Erfolg, durch den Graf Leinsdorf, ohne sich auch nur im geringsten anzustrengen, sogar gewiegte Beobachter in ihrer Neugierde täuschte, so läßt sich ihm jene realpolitische Begabung, die er zu besitzen glaubte, keineswegs absprechen.
Aber auch die Herren, die bei festlichen Anlässen goldgesticktes Laubwerk und ähnliche Bukolika auf den Fräcken tragen, hielten sich an die realpolitischen Vorurteile ihres Metiers, und da sie auf der Suche in den Hintergründen der Parallelaktion keine greiflichen Erscheinungen fanden, richteten sie bald ihr Augenmerk auf das, was die Ursache der meisten ungeklärten Erscheinungen in Kakanien war und »die nicht erlösten Nationen« genannt wurde. Man tut heute so, als ob der Nationalismus lediglich eine Erfindung der Armeelieferanten wäre, aber man sollte es auch einmal mit einer erweiterten Erklärung versuchen, und zu einer solchen lieferte Kakanien einen wichtigen Beitrag. Die Bewohner dieser kaiserlich und königlichen kaiserlich königlichen Doppelmonarchie fanden sich vor eine schwere Aufgabe gestellt; sie hatten sich als kaiserlich und könig lich österreichisch-ungarische Patrioten zu fühlen, zugleich aber auch als königlich ungarische oder kaiserlich königlich österreichische. Ihr begreiflicher Wahlspruch angesichts solcher Schwierigkeiten war »Mit vereinten Kräften!« Das hieß viribus unitis. Die Österreicher brauchten aber dazu weit größere Kräfte als die Ungarn. Denn die Ungarn waren zuerst und zuletzt nur Ungarn, und bloß nebenbei galten sie bei anderen Leuten, die ihre Sprache nicht verstanden, auch für Österreich-Ungarn; die Österreicher dagegen waren zuerst und ursprünglich nichts und sollten sich nach Ansicht ihrer Oberen gleich als Österreich-Ungarn oder Österreicher-Ungarn fühlen, – es gab nicht einmal ein richtiges Wort dafür. Es gab auch Österreich nicht. Die beiden Teile Ungarn und Österreich paßten zu einander wie eine rotweiß-grüne Jacke zu einer schwarz-gelben Hose; die Jacke war ein Stück für sich, die Hose aber war der Rest eines nicht mehr bestehenden schwarz-gelben Anzugs, der im Jahre achtzehnhundertsiebenundsechzig zertrennt worden war. Die Hose Österreich hieß seither in der amtlichen Sprache »Die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder«, was natürlich gar nichts bedeutete und ein Name aus Namen war, denn auch diese Königreiche,
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