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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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ein Wunder geschehn?« fragte er sich. Aber in dem Maße der Abkühlung hatte er eingehalten.
    Dieser Auftritt war ihm jetzt wieder lebhaft gegenwärtig geworden. Eisig ruhte sein Blick noch einmal auf der Straße zu seinen Füßen. »Es müßte wahrhaftig das Wunder einer Erlösung vorhergehn,« sagte er sich »andere Menschen müßten die Erde bevölkern, ehe man an die Verwirklichung solcher Dinge denken dürfte.« Er gab sich nicht mehr die Mühe, zu enträtseln, wie und wovon man erlösen müßte; es hätte jedenfalls alles anders sein müssen. Er ging an seinen Schreibtisch zurück, den er vor einer halben Stunde verlassen hatte, zu seinen Briefen und Depeschen, und schellte Soliman, um seinen Sekretär holen zu lassen.
    Und während er auf diesen wartete und seine Gedanken schon die ersten Sätze eines Wirtschaftsdiktats rundeten, kristallisierte sich das Erlebte in ihm zu einer schönen und beziehungsreichen moralischen Form. »Ein seiner Verantwortung bewußter Mann« sagte sich Arnheim überzeugt »darf schließlich auch, wenn er Seele schenkt, nur die Zinsen zum Opfer bringen und niemals das Kapital!«

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Graf Leinsdorf erzielt einen unerwarteten politischen Erfolg
    WENN SEINE ERLAUCHT von einer europäischen Staatenfamilie sprach, die sich jubelnd um den greisen Kaiser-Patriarchen scharen sollte, so nahm er immer und stillschweigend Preußen aus. Vielleicht geschah dies jetzt sogar mich inniger als früher, denn Graf Leinsdorf fühlte sich durch den Eindruck, den Dr. Paul Arnheim machte, unleugbar gestört; so oft er zu seiner Freundin Diotima kam, traf er entweder diesen Mann oder dessen Spuren an und wußte ebensowenig wie Sektionschef Tuzzi, wie ihm geschah. Diotima bemerkte jetzt, was früher nie geschehen war, jedesmal, wenn sie ihn seelenvoll anblickte, die geschwollenen Adern an Händen und Hals Sr. Erlaucht und die helltabakfarbene, den Geruch alternder Männer ausströmende Haut, und wenn sie es dem großen Herrn an Verehrung auch nicht fehlen ließ, so hatte sich in den Strahlen ihrer Gunst doch etwas verändert wie Sommersonne zu Wintersonne. Graf Leinsdorf neigte weder zu Phantasien noch zur Musik, aber seit er Dr. Arnheim hinnehmen mußte, geschah es merkwürdig oft, daß er in den Ohren ein leichtes Klingen wie von Pauken und Tschinellen eines österreichischen Militärmarsches spürte oder daß ihn, wenn er die Augen schloß, in ihrem Dunkel ein Wallen beunruhigte, das von schwarz-gelben Fahnen kam, die sich dort haufenweise bewegten. Und solche patriotischen Visionen schienen auch andere Freund e des Hauses Tuzzi heimzusuchen. Wenigstens sprach man überall, wohin er hörte, zwar mit größter Achtung von Deutschland, aber wenn er es zu verstehen gab, daß die große patriotische Aktion vielleicht doch im Lauf der Ereignisse eine kleine Spitze gegen das Bruderreich annehmen könnte, wurde diese Achtung durch ein herzliches Lächeln verschönt.
    Se. Erlaucht war da in seinem Bezirk auf ein wichtiges Phänomen gestoßen. Es gibt gewisse Familiengefühle, die besonders heftig sind, und dazu gehörte die vor dem Krieg in der europäischen Staatenfamilie allgemein verbreitet gewesene Abneigung gegen Deutschland. Vielleicht war Deutschland geistig das am wenigsten einheitliche Land, wo jeder etwas für seine Abneigung finden konnte; es war das Land, dessen alte Kultur am ehesten unter die Räder der neuen Zeit geraten und zu großartigen Worten für Talmi und Kommerz zerschnitten worden war; es war außerdem streitsüchtig, beutegierig, prahlerisch und gefährlich unzurechnungsfähig wie jede erregte große Masse: aber alles das war schließlich nur europäisch, und es hätte den Europäern höchstens ein wenig zu europäisch sein können. Es scheint einfach, daß es Wesen geben muß, Unwunschbilder, an denen sich die Unlust, Unstimmigkeit, gleichsam der Rückstand einer schlackenden Verbrennung anhäuft, den das Leben heute zurückläßt. Aus dem Kannsein entsteht zur namenlosen Überraschung aller Beteiligten plötzlich das Ist, und was bei diesem höchst ungeordneten Vorgang wegfällt, nicht stimmt, überschüssig ist und den Geist nicht befriedigt, scheint jenen atmosphärisch verteilten, zwischen allen Geschöpfen schwingenden Haß zu bilden, der für die gegenwärtige Zivilisation so kennzeichnend ist und die vermißte Zufriedenheit mit dem eigenen Tun durch die leicht erreichbare Unzufriedenheit mit dem der anderen ersetzt. Der Versuch, diese Unlust in besonderen Wesen

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