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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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getrieben zu haben. Denn Se. Erlaucht hatte da einen eigenen Plan. Es war schon beim Beginn der Parallelaktion einer seiner Gedanken gewesen, gerade jenen Teil der Kakanier deutschen Stammes für sie zu gewinnen, der sich weniger dem Vaterlande als der deutschen Nation zugetan fühlte. Mochten die anderen »Stämme« Kakanien, wie es geschah, als ein Gefängnis bezeichnen und ihre Liebe für Frankreich, Italien und Rußland noch so öffentlich ausdrücken, so waren das doch sozusagen entlegenere Schwärmereien, und kein ernster Politiker durfte sie auf eine Stufe stellen mit der Begeisterung gewisser Deutscher für das Deutsche Reich, das Kakanien geographisch umklammerte und ihm bis vor einem Menschenalter einheitlich verbunden gewesen war. Diesen deutschen Abtrünnigen, deren Treiben in Graf Leinsdorf, weil er selbst ein Deutscher war, die schmerzlichsten von allen Gefühlen hervorrief, hatte sein bekanntes Diktum gegolten: »Sie werden von selbst kommen!« Es war inzwischen zu dem Rang einer politischen Prophezeiung aufgestiegen, auf die man in der vaterländischen Aktion baute, und hatte ungefähr den Inhalt, daß man zuerst die »anderen österreichischen Stämme« für den Patriotismus gewinnen müsse, denn wenn nur dies erst einmal gelungen sei, würden sich auch alle deutschen Kreise zum Mithalten gezwungen sehen, da es bekanntlich weit schwerer ist, sich von etwas auszuschließen, das alle tun, als sich zu weigern, den Anfang zu machen. Also führte der Weg zu den Deutschen zunächst gegen die Deutschen und zur Bevorzugung der anderen Nationen; das hatte Graf Leinsdorf schon lange erkannt, aber als die Stunde der Tat kam, führte er es auch durch, und gerade das war es, was ihn Exzellenz Wisnietzky an die Spitze des Propagandakomitees stellen ließ, der nach Leinsdorfs Urteil Pole von Geburt, aber Kakanier von Gesinnung war.
    Es würde schwer zu entscheiden sein, ob Se. Erlaucht sich bewußt war, daß diese Wahl sich gegen den deutschen Gedanken richtete, wie man es ihm nachträglich vorwarf; immerhin ist es wahrschein, daß er angenommen haben wird, mit ihr dem wahren deutschen Gedanken zu dienen. Allein die Folge war, daß augenblicklich nun auch in deutschen Kreisen ein lebhaftes Treiben gegen die Parallelaktion einsetzte, so daß diese am Ende auf der einen Seite für einen deutschfeindlichen Anschlag angesehen und offen bekämpft wurde, während sie auf der anderen für einen pangermanischen galt und unter vorsichtigen Ausreden von Anfang an gemieden worden war. Solcher unerwartete Erfolg entging auch Sr. Erlaucht nicht und erregte allerorten lebhafte Besorgnis. Jedoch wurde Graf Leinsdorf von solcher Heimsuchung auch außerordentlich gestrafft; sowohl von Diotima wie von anderen Führern wiederholt ängstlich befragt, zeigte er den Kleinmütigen ein undurchdringliches, aber pflichttreues Gesicht und entgegnete ihnen das Folgende: »Es ist uns dieser Versuch nicht gleich ganz aufs erste geglückt, aber wer etwas Großes will, darf sich nicht vom Augenblickserfolg abhängig machen; jedenfalls ist das Interesse an der Parallelaktion gestiegen, und das andere wird sich, wenn man nur fest beharrt, schon finden!«

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Die unerlösten Nationen und General Stumms Gedanken über die Wortgruppe Erlösen.
    SO VIELE WORTE in einer großen Stadt in jedem Augenblick gesprochen werden, um die persönlichen Wünsche ihrer Bewohner auszudrücken, eines ist niemals darunter: das Wort »erlösen«. Man darf annehmen, daß alle anderen, die leidenschaftlichsten Worte und die Ausdrücke verwickeltster, ja sogar deutlich als Ausnahme gekennzeichneter Beziehungen, in vielen Duplikaten gleichzeitig geschrien und geflüstert werden, zum Beispiel »Sie sind der größte Gauner, der mir je untergekommen ist« oder »So ergreifend schön wie Sie ist keine zweite Frau«; so daß sich diese höchstpersönlichen Erlebnisse geradezu durch schöne statistische Kurven in ihrer Massenverteilung über die ganze Stadt darstellen ließen. Niemals aber sagt ein lebendiger Mensch zu einem anderen »Du kannst mich erlösen!« oder »Sei mein Erlöser!« Man kann ihn an einen Baum binden und hungern lassen; man kann ihn nach monatelangem vergeblichem Werben zusammen mit seiner Geliebten auf einer unbewohnten Insel aussetzen; man kann ihn Wechsel fälschen und einen Retter finden lassen: alle Worte der Welt werden sich in seinem Mund überstürzen, aber bestimmt wird er nicht, solange er wahrhaft bewegt ist, erlösen, Erlöser oder Erlösung

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