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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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das Ergebnis ist; und die dadurch bewirkte geistige Entlastung ist so groß, daß sich die Weisesten genau so wie die kleinen Mädchen, die nichts wissen, in ungestörtem Zustande sehr klug und gut vorkommen.
    Aber von Zeit zu Zeit, nach solchen Zufriedenheitszuständen, die man in gewissem Sinn auch Zwangszustände des Fühlens und Wollens nennen könnte, scheint das Gegenteil über uns zu kommen oder, um es gleichfalls in Begriffen eines Narrenhauses auszudrücken, es setzt dann plötzlich auf der Erde eine gewaltige Ideenflucht ein, nach deren Ablauf das ganze Menschenleben um neue Mittelpunkte und Achsen gelagert ist. Die tiefer als der Anlaß reichende Ursache aller großen Revolutionen liegt nicht in der angehäuften Unzuträglichkeit, sondern in der Abnützung des Zusammenhalts, der die künstliche Zufriedenheit der Seelen gestützt hat. Man könnte darauf am besten den Ausspruch eines berühmten Frühscholastikers anwenden, der lateinisch »Credo, ut intelligam« lautet und etwas frei sich etwa so ins zeitgenössische Deutsche übersetzen läßt: Herr, o mein Gott, gewähre meinem Geist einen Produktionskredit! Denn wahrscheinlich ist jedes menschliche Credo nur ein Sonderfall des Kredits überhaupt. In der Liebe wie im Geschäft, in der Wissenschaft wie beim Weitsprung muß man glauben, ehe man gewinnen und erreichen kann, und wie sollte das nicht vom Leben im ganzen gelten?! Seine Ordnung mag noch so begründet sein, ein Stück freiwilligen Glaubens an diese Ordnung ist immer darunter, ja es bezeichnet wie bei einer Pflanze die Stelle, wo der Trieb angesetzt hat, und ist dieser Glaube verbraucht, für den es keine Rechenschaft und Deckung gibt, so folgt bald der Zusammenbruch; es stürzen Zeitalter und Reiche nicht anders zusammen wie Geschäfte, wenn ihnen der Kredit verlorengeht. Und damit wäre diese grundsätzliche Betrachtung des seelischen Gleichgewichts von dem schönen Beispiel Bonadeas zu dem traurigen Kakaniens gelangt. Denn Kakanien war das erste Land im gegenwärtigen Entwicklungsabschnitt, dem Gott den Kredit, die Lebenslust, den Glauben an sich selbst und die Fähigkeit aller Kulturstaaten entzog, die nützliche Einbildung zu verbreiten, daß sie eine Aufgabe hätten. Es war ein kluges Land und beherbergte kultivierte Menschen; wie alle kultivierten Menschen an allen Orten der Erde liefen diese zwischen einer ungeheuren Aufregung von Geräusch, Geschwindigkeit, Neuerung, Streitfall und allem, was sonst noch zur optisch-akustischen Landschaft unseres Lebens gehört, in einer unentschiedenen Gemütslage umher; wie alle anderen Menschen lasen und hörten sie täglich einige Dutzend Nachrichten, die ihnen die Haare sträubten, und waren bereit, sich über sie zu erregen, ja sogar einzugreifen, aber es kam nicht dazu, denn einige Augenblicke später war der Reiz schon durch neuere aus dem Bewußtsein verdrängt; wie alle anderen fühlten sie sich von Mord, Totschlag, Leidenschaft, Opfermut, Größe umgeben, die sich irgendwie in dem Knäuel ereigneten, der um sie gebildet war, aber sie konnten zu diesen Abenteuern nicht hingelangen, weil sie in einem Büro oder einer anderen Berufsanstalt gefangen saßen, und wenn sie gegen Abend freikamen, so explodierte ihre Spannung, mit der sie nichts mehr anzufangen wußten, in Vergnügungen, die ihnen kein Vergnügen bereiteten. Und eines kam gerade bei den Kultivierten, wenn sie sich nicht so ausschließlich der Liebe widmeten wie Bonadea, noch hinzu: Sie hatten nicht mehr die Gabe des Kredits und nicht die des Betrugs. Sie wußten nicht mehr, wo kam ihr Lächeln, ihr Seufzer, ihr Gedanke hin? Wozu hatten sie gedacht und gelächelt? Ihre Ansichten waren Zufälle, ihre Neigungen waren längst da, irgendwie hing alles als Schema in der Luft, in das man hineinlief, und sie konnten nichts von ganzem Herzen tun oder lassen, weil es kein Gesetz ihrer Einheit gab. Auf solche Weise war der Kultivierte der Mensch, der fühlte, daß irgendeine Schuld immer höher steige, daß er sie nie mehr werde abtragen können, er war der Mann, der den unausweichlichen Konkurs sah und entweder die Zeit anklagte, in der er zu leben verurteilt sei, obgleich er genau so gerne in ihr lebte wie nur irgendwer, oder sich mit dem Mut eines, der nichts zu verlieren hatte, auf jede Idee stürzte, die ihm eine Änderung versprach.
    Das war nun freilich in der ganzen Welt so, aber als Gott Kakanien den Kredit entzog, tat er das Besondere, daß er die Schwierigkeiten der Kultur ganzen Völkern

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