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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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ungewohnten und mild verdünnten Art der Bestrahlung von ihrer »Überreizung« befreit fühlte, als ob ein Schorf von ihr abgefallen wäre. Zum erstenmal, seit sie verheiratet waren, fragte sich ihr Ehemann mißtrauisch, ob nicht ein Dritter seinen häuslichen Frieden störe.
    Was sich damit ereignet hatte, war aber nichts anderes als eine Erscheinung aus dem Bereich der Lebenssysteme. Kleider, aus dem Fluidum der Gegenwart herausgehoben und in ihrem ungeheuerlichen Dasein auf einer menschlichen Gestalt als Form an sich betrachtet, sind seltsame Röhren und Wucherungen, würdig der Gesellschaft eines Nasenpfeils und durch die Lippen gezogenen Rings; aber wie hinreißend werden sie, wenn man sie samt den Eigenschaften sieht, die sie ihrem Besitzer leihen! Dann geschieht nicht weniger, als wenn in einen krausen Linienzug auf einem Stück Papier der Sinn eines großen Worts hineinfährt. Man stelle sich vor, die unsichtbare Güte und Auserlesenheit eines Menschen würde plötzlich als ein dottrig goldener, vollmondgroß schwebender Heiligenschein hinter seinem Scheitelwirbel auftauchen, wie es auf frommen, alten Bildern zu sehen ist, während er am Korso spazierengeht oder bei einem Tee soeben Sandwiches auf seinen Teller legt: es wäre ohne Zweifel eines der ungeheuersten und erschütterndsten Erlebnisse; und solche Kraft, das Unsichtbare, ja sogar das gar nicht Vorhandene sichtbar zu machen, beweist ein gut gemachtes Kleidungsstück alle Tage!
    Solche Gegenstände gleichen Schuldnern, die den Wert, den wir ihnen leihen, mit phantastischen Zinsen zurückzahlen, und eigentlich gibt es nichts als Schuldnerdinge. Denn jene Eigenschaft der Kleidungsstücke besitzen auch Überzeugungen, Vorurteile, Theorien, Hoffnungen, der Glaube an irgendetwas, Gedanken, ja selbst die Gedankenlosigkeit besitzt sie, sofern sie nur kraft ihrer selbst von ihrer Richtigkeit durchdrungen ist. Sie alle dienen, indem sie uns das Vermögen leihen, das wir ihnen borgen, dem Zweck, die Welt in ein Licht zu stellen, dessen Schein von uns ausgeht, und im Grunde ist nichts anderes als dies die Aufgabe, für die jeder sein besonderes System hat. Mit großer und mannigfaltiger Kunst erzeugen wir eine Verblendung, mit deren Hilfe wir es zuwege bringen, neben den ungeheuerlichsten Dingen zu leben und dabei völlig ruhig zu bleiben, weil wir diese ausgefrorenen Grimassen des Weltalls als einen Tisch oder einen Stuhl, ein Schreien oder einen ausgestreckten Arm, eine Geschwindigkeit oder ein gebratenes Huhn erkennen. Wir sind imstande, zwischen einem offenen Himmelsabgrund über unserem Kopf und einem leicht zugedeckten Himmelsabgrund unter den Füßen, uns auf der Erde so ungestört zu fühlen wie in einem geschlossenen Zimmer. Wir wissen, daß sich das Leben ebenso in die unmenschlichen Weiten des Raums wie in die unmenschlichen Engen der Atomwelt verliert, aber dazwischen behandeln wir eine Schichte von Gebilden als die Dinge der Welt, ohne uns im geringsten davon anfechten zu lassen, daß das bloß die Bevorzugung der Eindrücke bedeutet, die wir aus einer gewissen mittleren Entfernung empfangen. Ein solches Verhalten liegt beträchtlich unter der Höhe unseres Verstandes, aber gerade das beweist, daß unser Gefühl stark daran teil hat. Und in der Tat, die wichtigsten geistigen Vorkehrungen der Menschheit dienen der Erhaltung eines beständigen Gemütszustands, und alle Gefühle, alle Leidenschaften der Welt sind ein Nichts gegenüber der ungeheuren, aber völlig unbewußten Anstrengung, welche die Menschheit macht, um sich ihre gehobene Gemütsruhe zu bewahren! Es lohnt sich scheinbar kaum, davon zu reden, so klaglos wirkt es. Aber wenn man näher hinsieht, ist es doch ein äußerst künstlicher Bewußtseinszustand, der dem Menschen den aufrechten Gang zwischen kreisenden Gestirnen verleiht und ihm erlaubt, inmitten der fast unendlichen Unbekanntheit der Welt würdevoll die Hand zwischen den zweiten und dritten Rockknopf zu stecken. Und um das zuwege zu bringen, braucht nicht nur jeder Mensch seine Kunstgriffe, der Idiot ebensogut wie der Weise, sondern diese persönlichen Systeme von Kunstgriffen sind auch noch kunstvoll eingebaut in die moralischen und intellektuellen Gleichgewichtsvorkehrungen der Gesellschaft und Gesamtheit, die im Größeren dem gleichen Zweck dienen. Dieses Ineinandergreifen ist ähnlich dem der großen Natur, wo alle Kraftfelder des Kosmos in das der Erde hineinwirken, ohne daß man es merkt, weil das irdische Geschehen eben

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