Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
geglaubt haben, denn sobald jemand im Rufe steht, ein Napoleon zu sein, gewinnt er auch seine verlorenen Schlachten. Es hatte für Arnheim darum nie eine andere Möglichkeit gegeben, sich neben seinem Vater zu behaupten, als die von ihm gewählte, Geist, Politik und Gesellschaft in den Dienst des Geschäftes zu stellen. Den alten Arnheim schien es auch zu freuen, daß der junge Arnheim so viel wußte und konnte; aber wenn eine wichtige Frage zu entscheiden war, und man hatte sie tagelang produktions- und finanztechnisch, geist- und wirtschaftspolitisch erörtert und dargelegt, so dankte er, befahl nicht selten das Gegenteil von dem, was man ihm vorschlug, und hatte auf alle Einwendungen, die man ihm machte, nur ein hilflos eigensinniges Lächeln zur Antwort. Oft schüttelten sogar die Direktoren die Köpfe darüber, aber über kurz oder lang stellte es sich jedesmal heraus, daß der Alte auf die eine oder andere Weise recht hatte. Es war ungefähr so, wie wenn ein alter Jäger oder Bergführer eine Konferenz von Meteorologen anhören müßte und sich dann schließlich doch nach den Weissagungen seines Rheumatismus entscheidet; und im Grunde war das gar nicht verwunderlich, denn der Rheumatismus ist nun einmal noch in mancher Frage sicherer als die Wissenschaft, und es kommt auch nicht ausschließlich auf die Genauigkeit der Voraussicht an, weil die Dinge doch immer anders kommen, als man es sich vorgestellt hat, und die Hauptsache ist, daß man sich schlau und zäh mit ihrer Widerspenstigkeit abfindet. Es hätte Arnheim also eigentlich nicht schwerfallen dürfen, zu verstehen, daß ein alter Praktikus eine Menge weiß und kann, was sich theoretisch nicht vorhersehen läßt, aber es kam trotzdem ein folgenschwerer Tag, wo er entdeckte, daß der alte Samuel Arnheim Intuition habe.
»Weißt du, was Intuition ist?« fragte Arnheim aus seinen Gedanken heraus, als tastete er nach dem Schatten einer Entschuldigung für sein Verlangen, davon zu reden. Soliman blinzelte angestrengt, wie er es tat, wenn er wegen eines Auftrags verhört wurde, den er vergessen hatte, und Arnheim verbesserte sich abermals rasch. »Ich bin sehr nervös heute,« sagte er »du kannst das natürlich nicht wissen! Aber gib acht auf das, was ich dir jetzt sagen werde: »Geld erwerben bringt uns, wie du dir denken kannst, in Lagen, die nicht immer vornehm sind. Diese ewigen Bemühungen, zu rechnen und aus allem einen Vorteil zu ziehen, widersprechen der großen Lebensgestaltung, wie sie glücklichere Zeitalter haben ausbilden dürfen. Man hat aus dem Mord die adelige Tugend der Tapferkeit machen können, aber es erscheint mir fraglich, ob mit dem Rechnen etwas Ähnliches gelingen wird; es ist keine rechte Güte darin, keine Würde, keine tiefe Natur, das Geld macht alles zum Begriff, es ist unangenehm rational; wenn ich Geld sehe, muß ich, ob du es verstehst oder nicht, jedesmal an ungläubig prüfende Finger, viel Geschrei und viel Verstand denken, Vorstellungen, die mir gleichermaßen unerträglich sind.« Er brach ab und versank wieder ins Alleinsein. Er erinnerte sich an seine Verwandten, wie sie ihm, als er ein Kind war, über den Kopf strichen und dabei sagten, daß er ein gutes Köpfchen hätte. Ein Rechenköpfchen. Er haßte diese Gesinnung! In den blanken Goldstücken spiegelte sich die Vernunft einer Familie, die sich emporgearbeitet hatte! Er würde es verachtet haben, sich seiner Familie zu schämen, im Gegenteil, er beharrte gerade in den höchsten Kreisen vornehm bescheiden auf seiner Herkunft; aber die Vernunft seiner Familie fürchtete er, als wäre sie wie allzu lebhaftes Sprechen und flatternde Gebärden eine Familienschwäche, die ihn auf den Höhen der Menschheit unmöglich mache.
Wahrscheinlich hatte seine Verehrung für das Irrationale hier ihren Ursprung. Der Adel war irrational: fast klang das wie ein Scherz über Mängel adeligen Verstandes, aber Arnheim wußte, wie er es meinte. Er brauchte bloß daran zu denken, wie er als Jude nicht Reserveoffizier geworden war; da er als Arnheim aber auch nicht die geringe Stellung eines Unteroffiziers einnehmen konnte, hatte man ihn kurzerhand für untauglich zum Soldaten erklärt, und noch heute lehnte er es ab, darin nur den Mangel an Verständigkeit zu erblicken, ohne die mit ihm verknüpfte Ehrenhaftigkeit zu würdigen. Diese Erinnerung gab ihm den Anlaß, seine Rede an Soliman um einige Sätze zu bereichern. »Es ist möglich« fuhr er dort fort, wo er stehen geblieben war, denn
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