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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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mußt mir noch einen Kuß geben!« Denn so gehörte es sich, aber es schmeckte beiden, als hätten sie Zahnpulver auf den Lippen.
    Als sie im Vorzimmer ankamen, waren sie sehr erstaunt, daß es noch zur rechten Zeit geschah und die Gespräche hinter der Türe genau so weiterliefen wie vorher; als die Gäste aufbrachen, war Soliman verschwunden, und eine halbe Stunde später kämmte Rachel das Haar ihrer Herrin mit großer Sorgfalt und beinahe mit der alten demütigen Liebe.
    »Ich freue mich, daß meine Ermahnungen bei dir Erfolg gehabt haben!« lobte Diotima, und sie, die in so vielen Fragen zu keiner rechten Zufriedenheit kam, klopfte ihre kleine Dienerin freundlich auf die Hand.

118

So töte ihn doch!
    WALTER HATTE an Stelle seines Büroanzugs einen besseren angelegt und band seine Krawatte vor Clarissens Toilettenspiegel, der trotz der im neuen Geschmack sich krümmenden Umrahmung ein verzerrtes, untiefes Bild aus dem billigen, wahrscheinlich blasigen Glas zurückwarf. »Ganz recht haben sie,« sagte er ärgerlich »diese berühmte Aktion ist nur ein Schwindel!«
    »Was haben sie schon davon, daß sie schreien?!« meinte Clarisse.
    »Was hat man überhaupt heute vom Leben! Wenn sie auf die Straße gehn, so bilden sie wenigstens einen Zug; einer spürt den Körper des anderen! Wenigstens denken sie nicht und schreiben sie nicht: daraus wird schon irgend etwas werden!«
    »Und du meinst wirklich, daß die Aktion diese Empörung verdient?«
    Walter zuckte die Achseln. »Hast du nicht in der Zeitung von der Resolution der deutschen Vertrauensmänner gelesen, die dem Ministerpräsidenten überbracht worden ist? Kränkungen und Benachteiligungen der deutschen Bevölkerung und so weiter? Und den höhnischen Beschluß des Tschechenklubs? Oder gar die kleine Nachricht, daß die polnischen Abgeordneten in ihre Wahlbezirke abgereist sind: wenn man zwischen den Zeilen zu lesen versteht, sagt die das meiste, denn die Polen, von denen immer die Entscheidung abhängt, lassen die Regierung im Stich! Die Lage ist gespannt. Es war nicht an der Zeit, durch eine gemeinsame patriotische Aktion alle zu reizen!«
    »Wie ich heute morgen in der Stadt war,« erzählte Clarisse »habe ich berittene Polizei marschieren gesehn; ein ganzes Regiment; eine Frau hat mir erzählt, daß sie irgendwo versteckt werden!«
    »Natürlich. Auch das Militär steht in den Kasernen bereit.«
    »Glaubst du, daß es zu etwas kommt?!«
    »Das kann man doch nicht wissen!«
    »Sie reiten dann in die Leute hinein? Eigentlich ist das scheußlich, wenn man sich vorstellt, daß man lauter Pferdeleiber zwischen sich hat!«
    Walter hatte seine Krawatte noch einmal aufgeknüpft und band sie von neuem. »Hast du schon einmal so etwas mitgemacht?« fragte Clarisse.
    »Wie ich Student war.«
    »Und seither nicht?«
    Walter schüttelte verneinend den Kopf.
    »Du hast vorhin gesagt, daß Ulrich schuld ist, wenn es zu etwas kommt?« suchte sich Clarisse noch einmal zu vergewissern.
    »Das habe ich nicht gesagt!« verwahrte sich Walter. »Ihm sind politische Ereignisse leider gleichgültig. Ich habe nur gesagt, es sieht ihm ähnlich, so etwas leichtfertig heraufzubeschwören; er verkehrt in dem Kreis, der die Schuld trägt!«
    »Ich möchte mit in die Stadt kommen!« eröffnete Clarisse.
    »Keinesfalls! Es würde dich zu sehr aufregen!« Walter erwiderte das sehr entschieden; er hatte im Büro allerhand erfahren, was man von der Demonstration erwartete, und wollte Clarisse davon fernhalten. Denn das war nichts für sie, diese Hysterie, die von einer großen Menge aufsteigt; man mußte Clarisse behandeln wie eine Schwangere. Er verschluckte sich beinahe an diesem Wort, das in die spröde Reizbarkeit seiner sich ihm verschließenden Geliebten unversehens die törichte Wärme der Schwangerschaft brachte. »Aber solche Zusammenhänge, die über die gewöhnlichen Begriffe hinausgehn, gibt es!« sagte er sich nicht ganz ohne Stolz und bot Clarisse an: »Wenn es dir lieber ist, bleibe auch ich zu Hause.«
    »Nein,« erwiderte sie »wenigstens sollst du dabei sein.«
    Sie wollte allein bleiben. Als ihr Walter von der bevorstehenden Kundgebung erzählt und beschrieben hatte, wie so etwas aussehe, hatte sie eine Schlange vor Augen gehabt, mit lauter Schuppen, die sich jede einzeln bewegen. Sie wünschte sich selbst von diesem Anblick zu überzeugen, ohne vorher noch viel zu reden.
    Walter legte den Arm um sie. »Ich bleibe auch zu Hause?« wiederholte er fragend.
    Clarisse

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