Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
nur ein körperlich rasender bei ungewisser Beteiligung der Person, ein »Klavierzorn«, wie er auch Walter geläufig war, und so kam es, daß auch er, nachdem er seine Frau schon eine Weile verdutzt angestarrt hatte, plötzlich von nachgeholter Blässe überzogen wurde, die Zähne bleckte und als Antwort darauf, daß er ihr widerwärtig sei, ausrief: »Hüte dich vor dem Genie! Gerade du hüte dich!«
Er schrie noch heftiger, als sie es getan hatte, und die dunkle Prophezeiung kam ihm selbst schauerlich vor, denn sie hatte sich, stärker als er selbst, einfach einen Weg durch seine Kehle gebrochen, und er sah plötzlich alles schwarz im Zimmer, als wäre eine Sonnenfinsternis eingetreten.
Auch auf Clarisse hatte es Eindruck gemacht. Sie schwieg mit einemmal.
Es bedeutet ein Affekt, der so stark ist wie eine Sonnenverfinsterung auch gewiß keine einfache Sache, und wie immer er zustande gekommen sein mochte, so war mitten darin ganz unversehens Walters Eifersucht auf Ulrich mit einem Schlag zerborsten. Warum er ihn dabei ein Genie nannte? Es hieß wohl ungefähr soviel wie Überhebung, die nicht weiß, wie bald sie zerschellen soll. Walter sah mit einemmal alte Bilder vor sich: Ulrich, in Uniform nachhause kommend, der Barbar, der schon Geschichten mit wirklichen Frauen hatte, als Walter, obwohl er älter war, noch Gedichte auf Steinstatuen in Parken machte. Später: Ulrich, neue Nachrichten vom Geist der Genauigkeit, der Geschwindigkeit, des Stahls nachhause bringend; aber für den Humanisten Walter war auch das der Einbruch einer Barbarenhorde. Immer hatte Walter gegenüber dem jüngeren Freund das geheime Unbehagen des körperlich und auch an Unternehmungskraft Schwächeren empfunden, aber zugleich in sich den Geist gesehen und in jenem nur den rohen Willen. Und immer bestand zwischen ihnen, diese Auffassung bestärkend, das Verhältnis: Walter vom Schönen oder Guten bewegt, Ulrich kopfschüttelnd. Solche Eindrücke bleiben. Wenn es Walter gelungen wäre, die aufgeschlagene Stelle zu sehen, um die er mit Clarisse kämpfte, so würde er in der darin beschriebenen Zersetzung, die den Lebenswillen vom Ganzen in die Einzelheiten verdrängt, keineswegs einen Tadel seiner eigenen künstlerischen Grübelsucht erkannt haben, wie Clarisse es verstand, sondern er würde überzeugt gewesen sein, daß dies eine ausgezeichnete Beschreibung seines Freundes Ulrich sei, angefangen von der Überwertung der Einzelheiten, wie sie dem modernen Erfahrungsaberglauben eigentümlich ist, bis zu der Fortsetzung dieses barbarischen Zerfalls in das Ich hinein, was er einen Mann ohne Eigenschaften oder Eigenschaften ohne Mann genannt hatte, während Ulrich in seinem Größenwahn diese Bezeichnung noch dazu gut hieß. Alles das meinte Walter mit dem Schmähruf Genie; denn wenn sich irgendwer eine einsame Individualität nennen durfte, so meinte er das selbst zu sein, und doch hatte er das aufgegeben, um zur natürlichen menschlichen Aufgabe zurückzulenken, und fühlte sich seinem Freund darin um ein ganzes Zeitalter voraus. Aber während Clarisse auf seine Schmähung schwieg, dachte er: »Wenn sie jetzt nur ein einziges Wort zu Ulrichs Gunsten erwidert, so ertrage ich es nicht!« und der Haß schüttelte ihn, als täte das der Arm Ulrichs.
In seiner übermäßigen Erregung spürte er, wie er seinen Hut an sich reißen und forteilen würde. Er stürzte durch Gassen, ohne sie wahrzunehmen. Die Häuser bogen sich in seiner Vorstellung ordentlich im Wind zur Seite. Erst nach einer Weile verlangsamte sich sein Schritt, und nun sah er den Menschen ins Gesicht, an denen er vorbeikam. Diese Gesichter, die freundlich in das seine blickten, beruhigten ihn. Und nun setzte er auch, soweit sein Bewußtsein außerhalb dieses Phantasieerlebnisses geblieben war, dazu an, Clarisse zu erzählen, was er meine. Aber die Worte glänzten ihm in den Augen statt im Munde. Wie soll man auch das Glück beschreiben, zwischen Menschen und Brüdern zu sein! Clarisse würde sagen, es fehle ihm an Eigenheit. Aber Clarissens steiles Selbstbewußtsein hatte etwas Unmenschliches, und den überheblichen Forderungen, die es an ihn stellte, wollte er nicht mehr genügen! Er empfand das schmerzlichste Verlangen, mit ihr in eine Ordnung eingeschlossen zu sein, statt im offenen Irrwahn der Liebe und persönlichen Gesetzlosigkeit zu treiben. »Man muß unter allem, was man ist und tut, und sogar dann, wenn man sich im Gegensatz zu anderen befindet, eine Grundbewegung zu ihnen
Weitere Kostenlose Bücher