Fest der Herzen: Geständnis unterm Weihnachtsbaum / Schicksalstage - Liebesnächte
1. KAPITEL
M anchmal, wenn die pure Erschöpfung Olivia O’Ballivan in einen tiefen, festen Schlaf sinken ließ, hörte die Tierärztin sie nach ihr rufen – Kreaturen mit Flossen, Federn und vier Beinen.
Pferde, wild oder gezähmt, geliebte Hunde und solche, die sich verlaufen hatten, Katzen, die man am Straßenrand ausgesetzt hatte, weil sie zur Last wurden oder ihr Besitzer in hohem Alter gestorben war.
Die Vernachlässigten, die Misshandelten, die Unerwünschten, die Einsamen. Sie alle richteten die gleiche Botschaft an Olivia: Hilf mir!
Selbst wenn sie versuchte, diese Hilferufe zu ignorieren, indem sie sich im Schlaf vor Augen hielt, dass sie das alles nur träumte, half es nichts: Sie schreckte unweigerlich hoch und saß dann wie aus tiefsten Abgründen emporgerissen hellwach im Bett. Und das geschah, ganz gleich, ob sie mehrere Tage hintereinander achtzehn oder mehr Stunden gearbeitet hatte, zu etlichen Farmen und Ranches in ihrer County gefahren war, unabhängig davon, wie viel Zeit sie in ihrer Tierklinik in Stone Creek verbrachte oder wie intensiv sie sich mit den Plänen für das neue, hochmoderne Tierheim beschäftigte, das ihr berühmter Bruder und Countrymusiker Brad mit seiner letzten Filmgage finanzierte.
Heute Nacht war es ein Rentier.
Olivia richtete sich in ihrem zerwühlten Bett auf und blinzelte nach Atem ringend in die Dunkelheit. Mit beiden Händen fuhr sie sich durch ihr kurzes dunkles Haar und bemerkte, dass ihre momentane Pflegehündin Ginger ebenfalls aufgewacht war, gähnte und sich streckte.
Ein Rentier ?
„O’Ballivan“, sprach sie zu sich selbst, während sie die Bettdecke zur Seite schlug und sich auf den Rand der Matratze setzte. „Diesmal hat’s dich ja wohl wirklich erwischt.“
Doch der stumme Hilferuf wollte nicht verhallen, sondern geisterte drängend durch ihren Kopf.
Nur manchmal kam es vor, dass Olivia die Tiere richtiggehend etwas sagen hörte, wenn man die wortgewandte Ginger einmal außen vor ließ. Üblicherweise war es eher eine Wahrnehmung von eindringlichen Gefühlen, oft ergänzt durch Bilder, die zusammen einen intuitiven Hilferuf bildeten. Aber dieses Rentier hatte sie klar und deutlich vor ihrem geistigen Auge gesehen, wie es verwirrt und verängstigt an einer vereisten Straße verharrte.
Sie hatte sogar die Straße erkannt: Es war die Zufahrt zu ihrem Haus, ganz weit draußen an der Landstraße, wo der windschiefe Briefkasten stand. Das arme Tier war nicht verletzt, es hatte sich nur verlaufen. Und es hatte Hunger und Durst … und schreckliche Angst. Für hungrige Wölfe und Kojoten stellte es eine leichte Beute dar.
„In Arizona gibt es keine Rentiere“, sagte Olivia zu Ginger, die ihr einen skeptischen Blick zuwarf. Der an Arthritis leidende goldbraune Mischling aus Labrador und Golden Retriever erhob sich langsam von seinem bequemen Kissen in einer Ecke des hoffnungslos vollgestopften Schlafzimmers. „Es gibt definitiv in ganz Arizona nicht ein einziges Rentier.“
„Wie du meinst“ , erwiderte Ginger gähnend und trottete bereits in Richtung Tür. Olivia zog eine Jogginghose über ihre Schlafanzugshorts und griff nach einem Kapuzenshirt, das von einer Konzerttournee ihres Bruders übrig geblieben war, bevor der seinen vorzeitigen Abschied von der Bühne bekannt gegeben hatte. Dann stieg sie in die reichlich unglamourösen Arbeitsstiefel, in denen sie immer durch Wiesen, Weiden und Scheunen stapfte.
Olivia lebte in einem kleinen gemieteten Haus auf dem Land, doch sobald das Tierheim in der Stadt fertig war, würde sie in ein geräumiges Apartment in dessen Obergeschoss umziehen. Sie fuhr einen alten grauen Suburban, der früher einmal ihrem verstorbenen Großvater Big John gehört hatte, und sie wollteauch gar keinen schickeren Wagen. Nach dem Beenden ihres Veterinärmedizinstudiums hatte sie keine Energie damit verschwendet, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen.
Von ihren Schwestern, den Zwillingen Ashley und Melissa, wurde sie zwar immer wieder ermahnt, sie solle endlich mal „die Dinge auf die Reihe kriegen“, sich einen Mann suchen und eine Familie gründen. Aber die beiden waren selbst Singles ohne Aussicht auf Flitterwochen an einem exotischen Ort und ein Haus mit weißem Gartenzaun, weshalb sie aus Olivias Sicht überhaupt kein Recht hatten, ihr irgendwelche Vorhaltungen zu machen. Das meinten die zwei wohl nur, weil Olivia ein paar Jahre älter war als sie, mit diesem Argument allerdings brauchten sie ihr schon gar
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