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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Leinsdorf gestürmt werden könnte, daß Ulrich etwa an einer Laterne hing, von stürmenden Füßen zertrampelt wurde, ein andermal dagegen von Walter beschützt und zitternd gerettet wurde, das waren höchstens ganz flüchtige Tagschatten auf dem hellen Ordnungszustand der Fahrt mit festem Preis, Haltestellen und warnenden Glockenzeichen, dem sich Walter, nun wieder ruhiger atmend, verwandt fühlte.

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Kontermine und Verführung
    DAMALS SAH ES AUS, als drängten die Geschehnisse einem Ausgang zu, und auch für Direktor Leo Fischel, der in Sachen Arnheim geduldig in der Kontermine ausgeharrt hatte, kam die Stunde der Genugtuung. Leider war um diese Zeit Frau Klementine gerade nicht zu Hause, und so mußte er sich damit begnügen, ein über Börsenvorgänge gewöhnlich gut unterrichtetes Mittagblatt in der Hand haltend, bei seiner Tochter Gerda einzutreten; er setzte sich in einen bequemen Stuhl, deutete auf eine kleine Zeitungsnachricht und fragte behaglich: »Weißt du jetzt, mein Kind, weshalb der gedankentiefe Finanzmann in unserer Mitte weilt?«
    Er nannte Arnheim zu Hause niemals anders, um zu zeigen, daß er sich als seriöser Geschäftsmann aus der Bewunderung der Frauen seiner Familie für den reichen Schwätzer nichts mache. Und wenn auch nicht der Haß Hellsichtigkeit verleiht, so hat doch ein Börsengerücht nicht selten recht, und Fischels Abneigung gegen den Mann ließ ihn das halb Ausgesprochene sofort richtig ergänzen. »Nun, weißt du?« wiederholte er und suchte das Auge seiner Tochter in den Triumphstrahl seines Blicks zu zwingen »Die galizischen Ölfelder möchte er unter die Kontrolle seines Konzerns bringen!«
    Damit stand Fischel wieder auf, packte seine Zeitung zusammen, wie man einen Hund am Genick faßt, und verließ das Zimmer, weil ihm eingefallen war, einige Leute telefonisch anzurufen, um ganz sicher zu gehen. Er hatte das Gefühl, sich das, was er soeben gelesen hatte, immer schon gedacht zu haben (wie man sieht, ist die Wirkung von Börsennotizen also die gleiche wie die der schönen Literatur), und war mit Arnheim zufrieden, als ob einem so vernünftigen Mann doch nichts anderes zuzutrauen gewesen wäre, worüber er völlig vergaß, daß er ihn bis dahin bloß für einen Schwätzer gehalten hatte. Er wollte sich keine Mühe geben, Gerda die Bedeutung seiner Mitteilung auseinander zu setzen; jedes weitere Wort hätte der Sprache der Tatsachen nur Abbruch getan. »Die galizischen Ölfelder möchte er unter die Kontrolle seines Konzerns bringen!« mit dem Gewicht dieses schlichten Satzes auf der Zunge zog er sich zurück und dachte sich bloß noch: »Wer es aushalten kann, zu warten, der gewinnt immer!« was eine alte Börsenregel ist, die wie alle Wahrheiten der Börse die ewigen Wahrheiten auf das richtigste ergänzt.
    Kaum war er draußen, zeigte sich die ungestüme Wirkung auf Gerda; sie hatte bis dahin ihrem Vater nicht das Vergnügen bereitet, sich getroffen oder auch nur überrascht zu zeigen, aber nun riß sie eilig einen Schrank auf, nahm Mantel und Hut heraus, richtete Haar und Kleid vor dem Spiegel, blieb vor dem Spiegel sitzen und besah zweifelnd ihr Gesicht. Sie hatte den Entschluß gefaßt, zu Ulrich zu laufen. Das war in dem Augenblick geschehen, wo ihr bei der Mitteilung ihres Vaters einfiel, diese Nachricht müsse doch gerade Ulrich so rasch wie möglich erfahren, denn es war ihr genug über die Verhältnisse in der Umgebung Diotimas bekannt, um erkennen zu können, wie wichtig die Neuigkeit ihres Vaters für ihn sei. Und in dem Augenblick, wo sie das beschloß, war ihr zumute, als ob in ihre Empfindungen die Bewegung einer Masse käme, die lange gezögert hat; sie hatte sich bis dahin so zu tun gezwungen, als hätte sie Ulrichs Einladung, ihn zu besuchen, vergessen, aber kaum lösten sich in der dunklen Masse ihrer Empfindungen die ersten nun langsam von der Stelle, so kam in die weiter entfernten schon ein unaufhaltsames Laufen und Drängen, und sie konnte sich nicht entschließen, aber der Beschluß war fertig, ohne sich um sie zu kümmern.
    »Er liebt mich nicht.!« sagte sie sich, während sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtete, das in den letzten Tagen noch schärfer geworden war. »Er kann mich auch nicht lieben, wenn ich so aussehe!« dachte sie dabei matt. Und fügte im gleichen Augenblick trotzig hinzu: »Er ist es nicht wert! Ich habe mir alles nur eingeredet!«
    Völlige Mutlosigkeit befiel sie. Die Vorgänge der letzten Zeit hatten an ihr gezehrt. Ihr

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