Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Verhältnis zu Ulrich kam ihr so vor, als hätten sie durch Jahre mit aller Aufmerksamkeit etwas verwickelt gemacht, das ganz einfach sei. Und Hans rieb mit seinen kindischen Zärtlichkeiten ihre Nerven auf; sie behandelte ihn mit Heftigkeit und zuletzt manchmal mit Verachtung, aber Hans antwortete mit noch größerer Heftigkeit, wie ein Knabe, der droht, sich ein Leid anzutun, und wenn sie ihn beruhigen mußte, wurde sie wieder von ihm umarmt und schattenhaft berührt, wovon ihre Schultern mager wurden und ihre Haut die Frische verlor. Mit allen diesen Qualen hatte Gerda abgeschlossen, als sie ihren Schrank öffnete, um den Hut herauszunehmen, und die Angst vor dem Spiegel endete damit, daß sie rasch wieder aufstand und fortstürzte, ohne im geringsten von dieser Angst befreit zu sein.
Als Ulrich sie eintreten sah, wußte er alles; noch dazu hatte sie einen Schleier vorgebunden, wie ihn Bonadea bei ihren Besuchen zu tragen pflegte. Sie zitterte am ganzen Leibe und suchte das durch eine künstlich unbefangene Haltung zu verbergen, die närrisch steif wirkte.
»Ich komme zu dir, weil ich soeben von meinem Vater etwas sehr Wichtiges erfahren habe« sagte sie.
»Zu sonderbar!« dachte Ulrich »Nun spricht sie mich mit einemmal Du an!« Dieses gewaltsame Du brachte ihn in Wut, und um sich das nicht merken zu lassen, suchte er es sich damit zu erklären, daß Gerdas übertriebenes Gebaren sicherlich ihrem Besuch die Merkmale eines Verhängnisses, ja überhaupt die besondere Bedeutung nehmen solle, um ihn wie ein vernünftiges, bloß etwas verspätetes Ereignis hinzustellen, woraus von allem das Gegenteil zu schließen war, so daß die Vorsätze des Mädchens offenbar bis ans letzte reichten. »Wir sagen uns doch schon lange du und mit Worten bloß deshalb nicht, weil wir uns immer ausgewichen sind!« erläuterte Gerda, die sich ihren Auftritt unterwegs überlegt hatte und auf das Erstaunen vorbereitet war, das er erregen werde.
Aber Ulrich verfuhr kurz, indem er den Arm um ihre Schulter legte und sie küßte. Gerda gab nach wie eine weiche Kerze. Ihr Atem, ihre Finger, die nach ihm griffen, waren die von Bewußtlosen. In diesem Augenblick kam die Grausamkeit des Verführers über ihn, der sich unwiderstehlich von der Unentschlossenheit einer Seele angezogen fühlt, die von ihrem eigenen Körper mitgeschleift wird wie ein Gefangener in den Armen seiner Häscher. Vom Winternachmittag drängte bei den Fenstern matter Schein in das dunkelnde Zimmer, und in einem dieser hellen Ausschnitte stand er und hielt das Mädchen in seinem Arm; der Kopf hob sich gelb und scharf von dem weichen Kissen des Lichts ab, und die Farbe des Gesichts war ölig, so daß Gerda in diesem Augenblick beinahe wie eine Tote aussah. Er küßte sie langsam überall hin auf die freie Fläche zwischen Kopfhaar und Kleid und mußte dabei einen leichten Widerwillen überwinden, bis auf die Berührung ihrer Lippen, die den seinen in einer Weise entgegenkamen, die ihn an die schwachen Ärmchen gemahnte, mit denen ein Kind den Nacken eines Erwachsenen umschlingt. Er dachte an das schöne Gesicht Bonadeas, das unter dem Griff der Leidenschaft an eine Taube erinnerte, deren Federn sich in den Fängen eines Raubvogels sträuben, und an Diotimas statuenhafte Huld, die er nicht genossen hatte; statt der Schönheit, die ihm diese beiden Frauen schenken wollten, lag nun seltsamerweise Gerdas inbrünstig verzerrtes, hilflos häßliches Gesicht unter seinem Blick.
Gerda verharrte indes nicht lange in dieser wachen Ohnmacht. Sie hatte geglaubt, nur für die Dauer eines Blicks die Augen zu schließen, und während Ulrich ihr Gesicht küßte, kam ihr das vor, wie die Sterne in der Unendlichkeit des Raumes und der Zeit stehen, so daß sie keinen Eindruck von Dauer und Grenzen dieses Vorganges hatte, aber bei dem ersten Nachlassen seiner Bemühung wachte sie auf und stellte sich wieder selbständig auf die Beine. Es waren die ersten Küsse wirklicher, nicht bloß gespielter und eingebildeter Leidenschaft gewesen, die sie soeben gegeben und, wie sie fühlte, auch empfangen hatte, und der Widerhall in ihrem Körper war so ungeheuer, als ob sie schon dieser Augenblick zur Frau gemacht hätte. Mit diesem Vorgang verhält es sich aber ähnlich wie mit dem Zahnausreißen: obgleich nachher weniger des Körpers vorhanden ist als vorher, hat man doch das Gefühl größerer Vollständigkeit, weil ein Anlaß der Beunruhigung endgültig beseitigt ist; und nachdem ihr Zustand daran
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