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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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holte wieder Schwung und so flog auch diese Kiste in den Fluss und ging unter.
    Bei den nächsten Kisten, die er in zunehmend höherem Tempo in die Hamme beförderte, rief er das Wort »loslassen«, was ihm von Mal zu Mal besser und einleuchtender erschien, Frau Bender hätte ihre Freude daran gehabt. Er schrie von Kiste zu Kiste immer lauter. »Heben! Schwung holen! Loslassen und versenken!« Er schrie, lachte, schwitzte: HEBEN! SCHWUNG HOLEN! LOSLASSEN UND VERSENKEN! - bis zur 35. Kiste. Danach hielt er sich schnaufend an seinem Fahrrad fest und sah auf die aufgewühlte Oberfläche des Moorwassers.
    Er schloss für einen Moment die Augen. Dann sprang er auf den Sattel und lenkte sein Fahrrad geschickt um die Löcher des goldgelben Sandwegs herum in Richtung Hamme-Brücke. Wie schwerelos er sich vorkam! Wie leicht er dahinradelte! Wie viel schöner Weg vor einem liegen konnte, wenn man sich nicht nach hinten umdrehte! Er stand auf seinen Pedalen und meisterte die leichten Steigungen zum Weyerberg hin so schnell wie noch nie. Wie ein Radrennfahrer der Tour der France kam er sich vor. HEBEN, SCHWUNG HOLEN, LOSLASSEN UND JETZT ZUM FRISEUR, rief Ohlrogge in den Fahrtwind.
    Es war Punkt eins, als er mit quietschenden Reifen vor dem Coiffeur-Salon Meyer hielt. Er schloss das Fahrrad gar nicht an. Warum denn glauben, dass es jemand klauen würde?, dachte er, es würde ihm niemand wegnehmen. Ihm würde überhaupt nie mehr jemand in Worpswede etwas wegnehmen!
    »Wir drehen auch ein paar Locken rein, so wie ich sie früher getragen habe«, sagte Ohlrogge zum Chef-Stylisten, zu Meyer selbst, der ihm das Haar schnitt, das zuvor mit einem besonderen Moorshampoo gewaschen worden war.
    »Auch ein bisschen Farbe wie früher?«, fragte Meyer.
    »Dauert zu lange!«, antwortete Ohlrogge. Ja, wie herrlich es war, plötzlich keine Zeit zu haben und die Welt im Sturm zu nehmen.
    »Wenn ich heirate, dann färben wir!«, sagte er, sprang mit halb gefönten Haaren auf das Fahrrad und erreichte Viehland in rekordverdächtiger Zeit um zwanzig nach zwei.
    Sein Haus sah aus wie ein Schloss. Es strahlte, es glänzte!
    Die Putzfrau war über sich hinausgewachsen. Sie hatte einfach eigenmächtig die ollen Teppiche hinter das Haus geschleppt und die Dielen mit Essig geschrubbt. Den Tisch mit einem Spachtel bearbeitet und angeklebte Pflaumen, Hülsenfrüchte und allgemeine mit dem Tisch verwachsene Essensreste entfernt und danach mit Möbelpolitur aufpoliert. Das Bett war frisch bezogen und wie im Hotel aufgeschlagen. Überall war auch für Platz und Luft gesorgt, indem sie den muffigen Duschvorhang abgerissen und den ganzen Krimskrams hineingelegt hatte, den sie an Ohlrogges Stelle unbedingt aussortieren würde. Und welch gutes Händchen sie dabei bewiesen hatte, dachte er. Alte dahinstaubende Zeitschriften aus den Siebzigern, die er irgendwann einmal lesen wollte und nur deshalb nicht las, weil er sie ja aufhob und später lesen könnte. Welch Irrsinn, alles aufzuheben, anstatt es gleich zu lesen und danach wegzuschmeißen! Reis mit Motten, Mehl mit Motten, Haferflocken mit Motten, Marmelade mit faserigen weißbläulichen Pilzen, Quark mit faserigen blau-grünlichen Pilzen und Brot mit faserigen grün-gräulichen Pilzen waren aus der Küchennische entfernt worden. Ebenso Kellerasseln unter und hinter dem Herd. Die schwarz verbrannte Pfanne hatte sich in blitzendes Stahl verwandelt und hing einsatz- und bratbereit an einem neu montierten Haken über der glänzenden Spüle. Zerfledderte Schachteln, unnütze Dosen und abgelaufene Arzneipackungen waren verschwunden. Die herumliegenden Bleistifte, vormals stumpf und unbrauchbar, standen nun angespitzt und gebündelt in hohen Gläsern.
    Wie schön das aussah und wie praktisch. Hübsch war die Putzfrau nicht mit ihren schütteren Haaren und der krummen Nase, aber sie hatte einen absoluten Sinn für das Praktische und für das Schöne. Im Badezimmer roch es nach Meeresbrise und fruchtigem Frühling. Die Toilette war nicht mehr gelb-bräunlich, sondern weiß wie Schnee. In den Armaturen am Waschbecken konnte sich Ohlrogge mit seinen neuen, wiederbelebten Locken von früher spiegeln.
    »Mein Gott, wo haben Sie das Putzen gelernt?«
    »In Polen«, sagte sie.
    »Polen!«, wiederholte Ohlrogge.
    »Ja, ich komme aus Polen, lebe aber schon lange in Osterholz.«
    Ohlrogge gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Sie sind engagiert. Wie heißen Sie?«, fragte er.
    »Teresa. Mit der Struktur, da wusste ich aber nicht so

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