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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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unputzbare Innere seiner würfelartigen Behausung sah, kurz: die gesamte Begegnung mit der Putzfrau ließ in Ohlrogge nicht nur die Sehnsucht heraufsteigen, ab sofort einen normalen Haushalt zu führen, sondern ihm wurde auch augenblicklich deutlich, dass etwas Grundsätzliches geschehen musste, bevor eine andere, bestimmte Frau am Nachmittag bei ihm eintreten würde.
    Er stand da und überlegte, womit er anfangen sollte.
    Als Erstes gab er der vertrockneten Zimmerpflanze Wasser, in der Hoffnung, sie würde sich bis um fünf Uhr irgendwie erholen. Er versuchte das knorrige, neuartige Gewächs, das sich zuerst am Topfrand gebildet und mit der Zeit die andere Pflanze an die Seite gedrängt hatte, herauszureißen, aber es gelang nicht. Es wucherte mit seinen Wurzeln im ganzen Topf.
    Als Nächstes entschied Ohlrogge, alle Flaschen und Gläser mit schimmelnden Saft- und Marmeladenresten zu entsorgen. Ebenso die steinhart gewordenen Datteln, Pflaumen, die ranzigen Butterreste und die Berge von Fencheltee-Packungen. Er räumte dafür eine der Kisten aus, die er seit über dreißig Jahren mit einem Bettlaken zugedeckt hatte. Vermutlich würde eine Kiste nicht reichen, dachte er, er brauchte mehrere und müsste nun die Gegenstände aus seinem alten Leben nach all den Jahren auspacken und hier irgendwie in das andere Leben integrieren.
    Er hielt einen der braunen Hausschuhe in der Hand, mit denen er bei den Kücks auf dem Teufelsmoordamm gelebt hatte. Niemals würde er diesen Hausschuh in sein Leben integrieren!
    Er hob einen Stein heraus, den er mit Johanna an der Nordsee gefunden hatte. Wie ihn dieser Stein vom letzten Spaziergang attackierte! Dabei hatte er doch schon den jungen Mann im Garten gesehen: Leibhaftiger konnte einem diese Zeit doch nicht mehr vor Augen treten; dieser junge Kerl, die Frucht einer Liebe, die ihn, Ohlrogge, abschob, ausschloss, vergessen machte und als Mann ein für alle Mal vernichtete! Wieso schmerzten da jetzt noch dieser blöde Hausschuh und der Nordseestein?
    Er sprang auf. Er warf einen alten Hustensaft, der irgendwo herausgefallen war, wieder in eine Kiste zurück. Er setzte sich ans Telefon.
    Eine Stunde später hielt der Transport-Service von Schnaars genau vor seiner Tür. Sie trugen 35 Kisten heraus und luden sie auf die Ladefläche des Lkws. Dazu füllten sie circa hundert Säcke mit Müll, Flaschen und Gläsern und schafften sie ebenfalls heraus. Als Letztes hob Ohlrogge die alte Zimmerpflanze mit dem wuchernden Fremdgewächs über die Ladefläche und lief wieder ins Haus.
    Wie groß plötzlich alles war! Wie hell, wie luftig! Er atmete durch. Es war jetzt elf Uhr.
    Er riss alle Papierbögen von der Wand, die über seinem Schreibtisch hingen. Wie das auch aussah! KZ Ravensbrück, KZ Bergen-Belsen, KZ Moringen, KZ Sandbostel etc. - Und wenn Marie in keinen Akten auftaucht, GRABE ICH HINTER ODER UNTER DER SEELENSCHEUNE!!! - PAUL KÜCK LIESS DEN BUTTERKUCHEN FALLEN UND SCHAUTE MICH AN WIE DER TOD! ... Mensch, Ohlrogge, dachte er, da geht doch jede Frau wieder rückwärts aus dem Haus!
    Er starrte wieder auf das Foto von ihm und Johanna über dem Schreibtisch. Wie hatte er nur vor ein paar Tagen denken können, dass der Mann auf dem Foto nicht er war, sondern ein anderer, und dann auch noch dieser Klein-Goya Wendland?! Schluss mit den Gespenstern! Er riss das Foto von der Wand, zerschnitt es mit der Schere und stopfte es zusammen mit den Marie-Notizbögen und den KZ-Ermittlungen sowie den Worpsweder Schuldlisten und Kückakten aus Zeitungsausschnitten, Nordischer Gesellschaft etc. in eine Kiste auf dem Lkw. Obendrauf warf er noch den Hausschuh, den Nordseestein und die beigefarbene Jacke mit dem Mao-Abzeichen.
    Er atmete durch. Wie leicht er sich fühlte!
    Er ging zur Putzfrau und trug ihr auf, alle Gemälde vorsichtig herauszutragen und danach das Haus so richtig durchzuwischen, er selbst würde in der Zwischenzeit einen Außentermin haben, etwas erledigen.
    »Wischen Sie ruhig mehrmals alles gründlich durch! Die Fenster haben Sie gut geputzt, sehr gut! Putzen und wischen Sie in diesem Stil weiter! Man müsste auch die Ecken kräftig ausfeudeln. Gerade in den Ecken scheint sich einiges angesammelt zu haben während meiner langen Abwesenheit«, Ohlrogge sprach nun nicht mehr vom Tode seiner Haushaltgehilfin, auf die er vergeblich gewartet hatte, sondern von »seiner langen Abwesenheit«, und es stimmte ja auch: Er war wirklich eine lange, viel zu lange Zeit abwesend gewesen.
    »Ziehen Sie

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