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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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Großvaters im Hintergrund. Die alte Eiche. Die Vogeler-Stühle. Ein Tablett mit Butterkuchen. Hand in Hand lag seine Mutter mit diesem Mann in der Wiese, lehnte am Fensterbrett vor dem Schlafzimmer. Auf einem Foto saß sie auf seinen Schultern. Lachend. Mit langen fliegenden Haaren. Das Band für den Zopf im Mund. Der Mann sah stolz dabei aus, ihre Beine haltend unter dem blauen Kleid. Und seine Mutter war so jung. »Frühjahr '67« stand hinten drauf.
    »Hast du die gemacht?«, fragte er. »Du hast es gewusst, oder? Du hast es immer gewusst.«
    Nullkück nickte vorsichtig mit dem Kopf.
    Paul steckte die Fotos zurück in den Umschlag und schob ihn unter die Decke.
    Er wollte ihn nicht sehen.
     
    Die Arbeiten zur Gründung des Hauses liefen auf Hochtouren. Die Trommeln mischten den Beton an und die Bohrköpfe frästen sich in das Moor, teilweise 15 Meter tief. Zwischendurch hörte man, wie Brüning »Grund! Op Sand!« ausrief, dann »Beton!«, danach ratterte das Bohrgewinde hoch und Brünings und Kovacs Männer gössen den angemischten Beton in die frischen Bohrlöcher, bevor Wasser hineinlief. Sie sprangen immer schneller zwischen den Trommeln und den Bohrungen umher.
    »Lieber Nullkück, wir können das Bild nicht behalten. Wir müssen es zurückgeben. Es gehört dem Dorf und dem Land, nicht uns«, sagte Paul nach einer Zeit, in der sie auf dem Bett gesessen und der Gründung zugesehen hatten.
    Nullstück stand auf und stellte sich vor das Bild. Dann breitete er seine Arme aus, so als wolle er seine Mutter vor dem Dorf und dem Land schützen.
    Plötzlich bebte das Moor. Paul sprang auf und erstarrte. Tief unter der Erde, unter dem Haus, knackte und krachte und grollte es dumpf.
     

Ohlrogge stellt sich auf den Kopf und lässt los
    Die Putzhilfe, die er sich für diesen Tag bestellt hatte, stand um Punkt acht Uhr in der Tür und starrte in Ohlrogges Wohnraum. Sie trug rechts und links einen Eimer, darin: Schwämme, Arbeitskittel, Wischmopp, Meister Proper und andere Reinigungsmittel, die Ohlrogge nicht kannte.
    »Guten Morgen. Willkommen. Da sind Sie nun. Wo wollen Sie anfangen?«, fragte er höflich.
    Die Putzhilfe sagte nichts. Sie starrte nur weiterhin in den Raum.
    »Meine alte Haushaltsgehilfin ist schon sehr lange nicht gekommen. Sie kam einfach nicht mehr, bis ich herausfand, dass sie gestorben war«, erzählte Ohlrogge, es stimmte gar nicht, er hatte niemals eine solche Gehilfin gehabt, aber die Frau in der Tür, wie sie da stand, ihr Blick, der starre Ausdruck darin, der schon einem Entsetzen glich - Ohlrogge schämte sich. »Wo würden Sie denn ...Wie könnte man vorgehen ...Was soll man nur machen mit diesem Haushalt?«, fragte er vorsichtig.
    »Du meine Güte ...«, antwortete die Putzfrau. Sie stand immer noch mit ihren Eimern bewegungslos auf der Türschwelle. »Am besten erst mal die Fenster. Man sieht ja nix! Vielleicht könnten Sie die ganzen Sachen da ... Oder soll ich etwa überall drum rumwischen?«, fragte sie und folgte dabei mit ihrem Blick irritiert der Kette, die vom Bettpfosten durch das Fenster zu einem Riesen aus Bronze führte, der vor der Tür stand.
    »Nein, nein, nicht drum rumwischen. Ich räume auf. Die Sachen kommen weg. Die sollten schon lange weg. Fangen Sie ruhig mit den Fenstern von außen an«, sagte Ohlrogge. »Ich räume jetzt hier drinnen auf!«
    Kaum war die Putzhilfe aus der Tür, kettete er den Reichsbauernführer von seinem Bett los. Er kam sich auf einmal seltsam und irre vor, ja, dass er so etwas überhaupt an sein Bett angekettet hatte, war doch seltsam und irre? Er überlegte, wie man es der Putzfrau theoretisch erklären könnte, aber ihm fiel kein verständlicher Grund ein. Er wollte vor der Putzfrau normal wirken. Er wollte schon früher, als er sich manchmal einen Handwerker kommen ließ, normal und rechtschaffen wirken und stand lieber um sechs Uhr früh auf, um dem Handwerker nicht im Schlafanzug und ohne Frühstück gegenüberzutreten, falls der schon um sieben kam. Den Blick eines Handwerkers, der ihn wie einen Sonderling, einen Unnormalen musterte, wie einen, der um sieben noch nicht gefrühstückt hatte, den ertrug Ohlrogge nicht. Er kam sich dann vor wie ein krankes Tier, das von der Herde ausgestoßen wurde. Und auch der Blick, den die Putzfrau in seinen Wohnraum geworfen hatte; ihre sichtliche Verstörung in Anbetracht seines vollgemüllten Minihauses, das an einem Ungeheuer angekettet war; ihr Entsetzen, mit dem sie jetzt in das desolate, quasi

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