Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
Vom Netzwerk:
richtig ...«
    »Doch! So meinte ich das! Hier ist plötzlich überall Struktur in den Dingen! Wunderbar, Teresa, sogar das Brigitte-Bardot-Bild haben Sie entstaubt!«
    »Hier ist noch ein wichtiger Zettel. Sie hatten heute einen Arzttermin um zehn.« Sie hielt ihm die Überweisung mit der Magenspiegelung hin.
    »Ich weiß. Die ist auf morgen verschoben. Ich hatte heute Wichtigeres zu tun.«
    »Wann soll ich wiederkommen?«, fragte Teresa und zog ihren Arbeitskittel aus.
    »Nächsten Dienstag! Ich werde verrückt. Mein Tisch wackelt ja nicht mehr! Was haben Sie gemacht?«
    »Ach, nur ein bisschen was druntergelegt von Ihren Teekartons.«
    Jesus, dachte Ohlrogge, das hatte er seit 1968 nicht zustande gebracht. »Sie kommen jeden Dienstag für zwei Stunden, Teresa, solange ich lebe.«
    »Soll ich Ihnen mal ein neues Telefon mitbringen? Mit Tasten?«, fragte sie.
    »Mit Tasten?«, Ohlrogge war verblüfft.
    »Ja, ich hab noch eins. Kriegen Sie für 20 Euro. Ich stöpsel Ihnen alles richtig um.« Sie lächelte.
    Er lächelte auch.
     
    Draußen hatte sich der Himmel aufgehellt. Die Sonne fand ihren Weg durch die Wolken und verwandelte die Kuh wiesen der Wellbrocks in eine hellgrüne Landschaft mit gelben Butterblumen.
    Ohlrogge ging auf seine Bilder zu, die an den Außenwänden des Hauses lehnten. Er hörte sein Herz klopfen. Früher hatte er geglaubt, dass er mit seinen Bildern in und über Worpswede hinaus bekannt und berühmt werden würde, aber was hieß schon Ruhm, dachte er nun: Ruhm und Ehre, das war etwas Äußeres, Anstrengendes, mit Würde hatte das wenig zu tun. Er stellte sich vor, dass es würdevoller war, mit der Verzweiflung zu leben und alt zu werden anstatt so etwas wie Ruhm zu mehren oder zu umklammern.
    Ohlrogge überlegte, welches Bild er zuerst umdrehen und ansehen sollte. Er hatte auch zugegebenermaßen Angst, seine Werke von früher könnten ihm als nichtssagend und unbedeutend erscheinen. Himmelbilder? Was wäre, wenn er sie umdrehte und auf lauter belanglosen, worpswedegerechten Wolkenkitsch sähe? Aber das konnte nicht sein! Er hatte damals eine so starke und intensive Nähe zum Himmel gespürt, es war ihm unmöglich gewesen, etwas anderes zu malen. Die anderen malten ihre anti-imperialistischen und abstrakt-modernen Popsachen, Ohlrogge sah ganze Revolutionen und das Zusammenkrachen der alten und neuen Zeit, nur wenn er aus dem Moor in den Himmel blickte, so war es doch?
    Er drehte das erste Bild um und trat zurück.
    Oh Gott, flüsterte er.
    Er stand vor einem 2 Meter mal 1 Meter 50 großen Bild und dachte, er müsste sofort seine Schutzkleidung anziehen. Was für ein Himmel! Diese Gewalt, diese dahinziehende Kraft, was für ein Gemisch aus Hitze und Kälte, das sich da auftürmte! Er sah auf das Bild und wähnte sich kurz vor der finalen Naturkatastrophe, auch hatte er das Gefühl, das Bild würde immer größer werden und der Reichsbauernführer dagegen immer kleiner.
    Er drehte ein zweites Bild und beruhigte sich. Der Himmel riss in der Mitte auf und wölbte sich wie eine hellblaue Kuppel über ihn. Aber wo hatte er diesen flirrenden Blauton her? Indigo, Ultramarin, Eisensulfat, Kieselkreide, Alabaster - mit was mischte man den noch? Und wie lächerlich das ganze Treiben hier auf Erden war, wenn so eine Himmelskuppel über den Menschen war! Er hatte ja mit Gott nicht viel zu tun, das letzte Mal hatte er an ihn gedacht, als die alte Frau mit dem struppigen Koffer, der Bibel und den Zeitschriften an seine Tür gekommen war. Aber dieses Bild hatte wirklich etwas Göttliches, Ehrfurchteinflößendes. Dass er überhaupt Ehrfurcht einflößend malen konnte!
    Er drehte die nächsten Bilder um: warm und heiß wirkende Regenstürme mit dampfendem Wasser, 2 Meter mal 1 Meter 50. Der Titel lautete »Der Januar ist verrückt geworden«.
    Nebeleisiger Abendhimmel, tiefste Kälte, gleiches Format. Der Titel: »August, soll das der Sommer sein?«.
    Ohlrogge drehte immer mehr Bilder um. Er hatte das Gefühl, er hätte ein Dutzend Mal seine Schutz- und Regenkleidung für den Don-Camillo-Club überstreifen beziehungsweise sich seiner Kleider gänzlich entledigen müssen. Er stellte die Bilder um das ganze Haus. Schlug drinnen Nägel in die Wände und hängte sie auf, sodass er glaubte, sein Dach würde gleich wegfliegen vor lauter mitreißender Wolkenheere. Eins stellte er neben das Bett, eins auf den Schreibtisch. Er ging wieder nach draußen, nagelte einige an die Bäume, lehnte zwei an den Bauernführer,

Weitere Kostenlose Bücher