Der Marathon-Killer: Thriller
verwischten Helikopter-Rotorblättern über Blackheath hinaufschaute, dachte Marchant, er könnte im Augenblick auch ein bisschen Schutz gebrauchen. Plötzlich überkam ihn Platzangst, er fühlte sich von oben und von allen Seiten bedrängt. Hier hatte er keinen privaten Raum mehr, alle normalen Verhaltensregeln waren ausgesetzt. Ein Läufer neben ihm streifte seine Laufhose mit einer leeren Wasserflasche. Ein anderer ließ den Kopf nach vorn hängen und säuberte lautstark erst das eine und dann das andere Nasenloch. Wieder jemand anderes schrie vor Freude (oder vor Angst?). Die Menge reagierte darauf und antwortete wie ein unruhiges Tier. Jeder war jetzt Teil einer riesigen Herde, die nur eine Richtung kannte: die Startlinie.
Instinktiv winkelte Marchant die Ellbogen an, als sich die Menschen an ihn drängten und ihm auf die alten Laufschuhe trampelten. Ein paar Sekunden lang wurde er von Leila getrennt, dann fand er sie fünf Meter vor sich wieder, als sie sich umdrehte und nach ihm suchte. In diesem flüchtigen Moment, ihre Schönheit eingerahmt von tausend Fremden, liebte er sie mehr als je zuvor. Er schloss zu ihr auf und drückte ihre Hand. Sie erwiderte sein Lächeln, wirkte jedoch abwesend. Der Anruf von Paul Myers hatte sie beunruhigt.
Über ihnen kreisten nun zwei Hubschrauber, und das Dröhnen der Rotoren klang noch bedrohlicher. Außerdem hörte er noch andere Geräusche, die in hohen Frequenzen durch den Hintergrundlärm drangen. Marchant begriff zunächst nicht, was es war, bis er sich umsah. Überall um ihn herum spielten die Läufer an ihren Pulsuhren
und nahmen letzte Einstellungen vor, und bei jedem Tippen piepten die Geräte. Instinktiv blickte er auf die Zeiger seiner eigenen Uhr. Im gleichen Augenblick hupte am Start das Horn, wenn auch eigenartig zögerlich, wie ein zaghafter Ruf zu den Waffen. Und dann blieb Marchant nichts anderes mehr übrig, als zu laufen.
Das Rennen dauerte bereits fünfzig Minuten, als Marchant ihn zum ersten Mal bemerkte, hinter einer kleinen Gruppe von Läufern zwanzig Meter vor sich. Der Mann - Asiat, Mitte dreißig, zierlich gebaut, dicke Brille - lief ungefähr im gleichen Tempo wie sie, doch er wirkte unglücklich, wie er über die Pflastersteine an der Cutty Sark , dem Museumsschiff in Greenwich, vorbeitaumelte. Er schwitzte extrem, selbst für diese Hitze. Was allerdings Marchants volle Aufmerksamkeit weckte, war der Gurt um seinen Bauch.
Nach Leilas Gerede über Cheltenham, wo der technische Aufklärungsdienst Government Communications Headquarters, kurz GCHQ, seinen Sitz hatte, waren Marchants alte Instinkte wieder erwacht. Plötzlich hatte sich die Welt um ihn mit Bedrohungen gefüllt, überall sah er tote Briefkästen und heimliche Übergaben, und dieser Gurt beunruhigte ihn. Daran befanden sich eine Reihe Täschchen, und in jedem steckte ein isotonischer Energydrink. Die Getränke waren in weiche, aufgeblähte Kartonbeutel abgefüllt, silbern mit orangefarbenen Drehverschlüssen. Er hatte auch andere Läufer mit solchen Gurten gesehen, aber nicht mit so vielen Täschchen.
Das war lediglich eine Vorsichtsmaßnahme für einen heißen Tag, redete Marchant sich ein und zog das Tempo
ein wenig an. Laufen war ihm immer leichtgefallen, vielleicht ein Vorteil seiner Größe. Er erreichte die Gruppe vor sich, als sie Greenwich auf der Creek Road in Richtung Deptford verließen. Hier lockerte das Feld auf, doch der Lärm der hechelnden Läufer, die sich Namen auf die Trikots geschrieben hatten, ließ kaum nach. »Wo ist Grommit?«, rief jemand einem Spaßläufer in einem Wallace-Kostüm hinterher. »Hopp, hopp, Dan!«, schrien zwei junge Frauen am Straßenrand. Einen Moment lang dachte er, sie würden jemand anderes anfeuern, aber dann fiel ihm ein, dass Leila darauf bestanden hatte, »Dan« auf sein Laufshirt zu schreiben. Er drehte sich um und wollte noch einmal zu ihnen hinüberschauen, doch die beiden jubelten bereits anderen Fremden zu.
»Was ist los?«, rief Leila hinter ihm. »Läuft doch prächtig.«
»Augenblick mal«, sagte er. Die Gruppe vor dem Mann wirkte ebenfalls auffällig. Zwei kräftige Kerle schwitzten in der Hitze und zeigten alle eindeutigen Merkmale: ausgebeulte T-Shirts und die typischen kurz geschorenen Haare amerikanischer GIs. Der dritte Mann war dünn und sehnig, ein geborener Läufer. Er kam Marchant bekannt vor.
Während er aufholte, war er plötzlich sicher, dass etwas nicht stimmte. Er konnte es förmlich schmecken, so wie
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