Der Medicus von Heidelberg
mitbekommen. Nichts von der Situation. Und nichts von der Operation.
»Träum nicht, Lukas«, ermahnte mich mein Vater. »Du blickst schon wieder so seltsam drein. Gib mir ein warmes, feuchtes Tuch.« Ich reichte ihm eines, und er wischte damit die restlichen Härchen vom Schamhügel fort. »Es gibt eine schmale Linie im Gewebe unter der Haut«, murmelte er, wobei er auf den Leib meiner Stiefmutter blickte und gleichzeitig die Hand in meine Richtung ausstreckte. Ich nahm an, er wollte ein Skalpell, und reichte ihm das mit dem geschnitzten Horngriff. Ich hatte es gewählt, weil ich wusste, dass er es am liebsten verwendete, und freute mich, als er damit zufrieden schien.
»Eine schmale Linie«, wiederholte er. »Längs verlaufend. In der Mitte des Bauches, oberhalb und unterhalb des Nabels. Das ist beim Tier so, und das ist beim Menschen nicht anders. Wir jedoch interessieren uns nur für die Linie unterhalb des Nabels. Man nennt sie auch die weiße Linie. Wenn man in sie einschneidet, blutet es kaum, was sehr von Vorteil ist …«
Vater erklärte noch manches mehr, und an das meiste erinnere ich mich nicht, aber ich weiß noch, dass ich mich fragte, warum er ständig vor sich hin sprach. Vielleicht wollte er sich selbst beruhigen, vielleicht auch meine Stiefmutter, jedenfalls – ich hatte für einen Augenblick weggeschaut – sah ich auf einmal, wie er das Skalpell mit sicherer Hand durch die Bauchdecke zog. Meine Stiefmutter lag ruhig da und hatte die Augen geschlossen. Iwein und Wyss standen bereit, um sie, wenn nötig, festzuhalten.
»Du bist sehr tapfer, meine Elisabeth. Es ist gut, dass du schlank wie eine Gerte bist. Das erleichtert den Einschnitt ungemein. Siehst du, schon haben wir uns bis zur Gebärmutterwand vorgearbeitet. Der Schnitt ist gut sieben Zoll lang. Er soll die Pforte bilden, durch die unser Kind das Licht der Welt erblickt. Jetzt heißt es nur noch, die Wand zu durchtrennen. Wir wollen es behutsam tun. Die Blase liegt zwar tiefer, doch wir müssen vorsichtig sein …«
Er redete immer weiter, befahl mir, heranzutreten und die Schnittränder mit zwei Wundhaken auseinanderzuziehen, und hielt plötzlich einen winzigen Fuß in der Hand. Dann einen zweiten. Und dann zog er das ganze Kind heraus. Es war blutig und schleimig, und er hielt es an den Füßen, den Kopf nach unten. Unwillkürlich musste ich daran denken, dass Vater genauso die kleinen Ferkel hielt, bevor er sie … nein, dieser Gedanke gehörte nicht hierher. Zumal Vater etwas ganz anderes tat. Er gab dem Kind einen Klaps auf den Po. Augenblicklich gellte ein Schrei durch die Gebärstube.
»Es ist ein Junge!«, rief mein Vater froh. »Elisabeth, wir haben einen kleinen Jungen!«
Meine Stiefmutter rührte sich nicht. Erst, als ich sie sanft berührte, öffnete sie die Augen und erblickte das Kind. Sie gab einen schwachen Laut des Entzückens von sich, wollte sich aufrichten, wurde aber von Iwein und Wyss mit sanftem Druck daran gehindert. Hinter uns öffnete sich die Tür. Die Wehmütter und Nachbarinnen hatten den Schrei des Neugeborenen gehört. Sie machten lange Hälse. Mein Vater durchtrennte die Nabelschnur und übergab meinen kleinen Bruder an die Frauen, damit sie ihn reinigten und die Nabelschnur verknoteten. Dann forschte er nach dem Mutterkuchen und der Eihaut, entnahm beides, überzeugte sich von deren Vollständigkeit und begann mit dem Vernähen der Gebärmutterwand. Er tat es mit einem sauberen Faden aus Schafsdarm, den er auf eine gerundete Nadel gezogen hatte. Die Stiche, die er setzte, zeugten von großer Erfahrung. Ich bewunderte ihn dafür.
»Warum nähst du die Gebärmutter zu?«, fragte Alphons Wyss, der Wundarzt. »Das ist überflüssig. Weißt du nicht, dass die Gebärmutter zur Retraktion neigt? Sie zieht sich von selbst zurück, sobald das Kind heraus ist. Das wird dir jede Wehmutter bestätigen.«
Mein Vater blickte auf und erwiderte ruhig: »Was ich durchtrennt habe, nähe ich auch wieder zusammen. So habe ich es immer gehalten. Nichts ist sinnlos auf der Welt. Wenn die Gebärmutterwand von Natur aus geschlossen ist, wird es seinen Grund haben.« Er ließ sich von mir ein weiteres der bereitgelegten Tücher geben, tupfte die Wunde mit großer Umsicht sauber und griff abermals zur Nadel. Wenig später war auch der Leib verschlossen.
»Leg mir den Kleinen an die Brust, Jacob«, bat meine Stiefmutter mit schwacher, aber glücklicher Stimme.
Vater gehorchte. Er hatte Tränen in den Augen.
Eine
Weitere Kostenlose Bücher