Der Medicus von Heidelberg
Lukas?«, fragte sie. »Was ziehst du für ein Gesicht? Ist dir eine Laus über die Leber gekrochen?«
»Nein«, sagte ich.
»Sag schon, was hast du?«
»Nichts.«
»Nun setz dich wieder und erzähle, was dich bedrückt!« Meine Stiefmutter konnte sehr energisch werden.
Also setzte ich mich wieder und berichtete ihr von dem Gespräch, während Vater kaum zuzuhören schien, weil er die ganze Zeit den kleinen Elias hätschelte.
»Stimmt das, Jacob?«, fragte sie, als ich geendet hatte.
»Was? Ach ja. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Wir können ein andermal darüber reden.«
»Ich finde, wir sollten jetzt darüber reden. Wir alle sind glücklich, du, ich und der kleine Elias. Nur Lukas ist es nicht. Das darf nicht sein, Jacob. Das ist nicht gerecht. Erfülle Lukas seinen Wunsch.«
»Nun ja«, sagte Vater. »Nun ja.«
So kam es, dass ich zwei Tage später, am dritten April des Jahres 1500 , nach Basel aufbrach, um an der dortigen Universität die
Artes liberales,
die »Freien Künste«, zu studieren.
Kapitel 2
Basel,
10 . bis 13 . März 1504
I ch saß an einer langen Tafel, an der nicht weniger als dreißig Männer lachten, tranken und sangen. Eigentlich hätten es noch mehr Männer sein können, doch der Gastgeber war nicht gerade gut bei Kasse. Er musste jeden Pfennig zweimal umdrehen, bevor er ihn einmal ausgab. Der Gastgeber war ich. Und der Grund für meine ungewöhnliche Freigebigkeit war, dass ich mein Examen zum Magister Artium bestanden hatte.
Punkt zehn Uhr am Morgen hatte ich im ehrwürdigen Doktorsaal der Basler Universität die Urkunde erhalten, die mir schwarz auf weiß bescheinigte, dass ich nach dem Trivium der Freien Künste auch das Quadrivium, also das weiterführende Studium der Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie, mit Erfolg absolviert hatte. Übergeben hatte mir das Dokument mein Lehrer und väterlicher Freund Johann Heinrich Wentz. Wentz bewohnte, seinem Stand geziemend, ein prächtiges Haus in der Rittergasse, ganz in der Nähe des Münsters. Und eben dieses Haus hatte er mir für meine Examensfeier zur Verfügung gestellt.
Jetzt saß er neben mir, inmitten all der fröhlich zechenden Kollegen und Kommilitonen. Ein wenig fehl am Platze wirkte er und ein wenig betreten ob der Ausgelassenheit um ihn herum, aber nachsichtig lächelnd und sich immer wieder mit einem Tuch den Schweiß von der geröteten Stirn wischend. Während ich ihn ansah, wanderten meine Gedanken zurück zu jenem Tag, als ich ihm zum ersten Mal begegnete.
Es war Anfang April des Jahres 1500 gewesen. Nach einwöchigem, anstrengendem Fußmarsch entlang des Rheins hatte ich die Mauern von Basel vor mir auftauchen sehen. Klopfenden Herzens passierte ich im Süden das St.-Alban-Tor und gelangte in die Stadt. Nie zuvor hatte ich so viele dichtgedrängte Häuser, so viele Kirchen, Klöster und Kapellen gesehen. Es kam mir vor, als ginge ich durch ein steinernes Meer. Nachdem ich geraume Zeit durch die Straßen geirrt war, lernte ich in der Nähe des Gerberbrunnens einen Burschen kennen, der nicht ohne Stolz verkündete, er sei ein »Artist«, also einer, der die
Artes liberales
studiere. Ich sagte ihm, genau das wolle ich auch, um später einmal Arzt werden zu können. Er lachte und meinte, das sei ein langer Weg. Ob ich nicht lieber mit ihm einen trinken gehen wolle? Das wollte ich nicht, und so gab er mir den Rat, mich als Erstes in einer Burse einzuquartieren. Er schickte mich zu einem Haus, das »Die Burse im Kollegium am Rheinsprung« genannt wurde.
Was eine Burse ist, wusste ich damals noch nicht. Aber ich sollte es bald erfahren. Sie ist ein Wohnort für Studenten, kostet ein bestimmtes Handgeld und ist ein Mittelding zwischen Kloster und Kastell. Disziplin geht darin über alles, und es gibt nichts, was nicht bis ins Kleinste geregelt wäre, von der Weckzeit am Morgen bis zum gemeinsamen Gebet am Abend. Doch das Wichtigste sind die Repetierstunden am Nachmittag, wenn die Inhalte von Grammatik, Arithmetik oder Dialektik wieder und wieder geübt werden. Die Aufsicht darüber hat der Leiter der Burse, der Regent. Und mein Regent sollte Johann Heinrich Wentz werden.
Er stand in der Mitte eines dichtbesetzten Raumes und verfolgte aufmerksam den Disput zweier Studenten, die mit scharfsinnigen Argumenten um die Erkenntnis rangen, ob der Tod ein Teil des Lebens sei oder das Leben ein Teil des Todes. Da mich das nichts anging, stellte ich mich in eine Ecke und hoffte, man würde mich früher oder später
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