Der Medicus von Saragossa
sich dann unter die Flaneure auf den Ramblas. Immer wieder blieben sie stehen, um Straßenkünstlern zuzusehen oder Musikanten zu lauschen, und zum Abschluß genehmigten sie sich in einem Cafe Gebäck und Kaffee.
Spätabends kehrten sie ins Hotel zurück. Nachdem sie sich geduscht hatten, saßen sie im Pyjama auf ihren Betten und redeten.
In drei Wochen würde Betty ihr drittes, das klinische Jahr an der Albert Einstein Medical School in New York beginnen, und sie war schon sehr aufgeregt und neugierig.
»Ich hab wirklich Bammel, Roz. Ich habe Angst, daß ich einen Fehler mache und jemanden umbringe.«
»Ich möchte wetten, daß es allen guten Medizinstudenten ähnlich geht«, sagte Rosalyn. »Du wirst eine großartige Ärztin sein, Betts.«
Rosalyn hatte im Juni ihr Juradiplom an der Boston University gemacht, wenige Tage bevor ihr Freund Bill Steinberg seine Promotion an der Tufts abgeschlossen und eine Stelle als Botanikdozent an der University of Massachusetts erhalten hatte. Sie hatten in Cambridge eine gemeinsame Wohnung und wollten im November heiraten. Rosalyn hatte im Juli ihre Zulassungsprüfung als Anwältin abgelegt, wartete jetzt auf das Ergebnis und arbeitete unterdessen in einer großen Kanzlei in Boston. Die Firma hatte ihr eine Dauerstellung angeboten, aber sie arbeitete schon lange genug dort, um zu merken, daß die großen, renommierten Kanzleien von ihren Anwälten fünfundsiebzig Stunden und mehr pro Woche erwarteten, und zwar ohne Ausnahme. In ihren Augen wäre ein solches Arbeitspensum eine Katastrophe für ihre junge Ehe, und deshalb hatte sie das Angebot nicht angenommen. Allerdings machte es sie nervös, Arbeit abzulehnen, und sie zerbrach sich den Kopf wegen der bevorstehenden Hochzeit. Das Reden war der eigentliche Grund, warum Betty und Rosalyn nach Spanien gekommen waren, und als sie endlich einmal daran dachten, auf die Uhr zu schauen, war es drei Uhr morgens.
Nachdem sie das Licht ausgeschaltet und sich in ihre Betten gekuschelt hatten, sprach Betty in der Dunkelheit weiter.
»Wir dürfen einander nicht verlieren, was, Kleine? Wir sollten in Verbindung bleiben, auch wenn wir viele Kinder haben und heiße Nummern in unseren Berufen sind.«
»Okay.«
»Versprochen?«
»Ich versprech's... Und jetzt schlaf endlich, verdammt.«
Zehn Minuten vergingen, und dann war es Rosalyn, die redete. »Heiße Nummern?«
Am Morgen des vierten Tages nahmen sie die Frühmaschine nach Saragossa. Im Hotel machten sie Pläne für den Tag: ein maurischer Palast aus dem elften Jahrhundert und jede Menge Goya.
Als sie über die Plaza de Espana gingen, sagte Rosalyn, daß sie unbedingt noch etwas einkaufen müsse. »Eigentlich ist es ein Friedensangebot für meine böse Großmutter.«
»Hattet ihr Streit? Du hast doch immer gesagt, sie ist eine großartige alte Dame.«
»Schon, aber meine Nona kann ziemlich schwierig sein. Anfangs wollte sie Bill nicht einmal kennenlernen, weil seine Eltern Aschkenasim sind, keine Sephardim. Die hat mir vielleicht eine Szene gemacht. Aus einer Mischehe könne ja nichts werden, meinte sie.«
»O Gott. Was hätte sie denn gesagt, wenn du bei Sonny Napoli geblieben wärst?«
»Sonny Napoli habe ich meiner Familie nie vorgestellt«, erwiderte Rosalyn verlegen, und dann grinsten beide.
»Wo hast du Bill Steinberg eigentlich aufgetrieben? Er ist der letzte der guten Jungs.«
»Er weiß, wie er mich glücklich machen kann, Betts. Er ist wirklich ein guter Junge. Am liebsten hätte er eine stille Hochzeit nur mit unseren engsten Freunden, aber meiner Familie zuliebe läßt er die große Feier und die sephardische Zeremonie über sich ergehen. Als ich ihm erzählte, daß man ihm bei der Rezitation der sieben Segenssprüche seinen Gebetsschal über den Kopf halten würde – als eine Art Hochzeitsbaldachin unter dem Hochzeitsbaldachin -, da meinte er, er müsse sich erst einen Gebetsschal kaufen. Warte, bis Nona merkt, daß er brandneu ist«, sagte sie. »Bills Eltern, Judith und Harold, sind so gutmütig und geduldig wie er. Mom und Pop haben sie zum Pessach-Seder eingeladen, damit sie den Clan kennenlernen. Sie hatten wohl Hühnersuppe und Kartoffelkugel erwartet und bekamen statt dessen Tortilla de Patata und fast vierzig Toledanos und Raphaels. Und meine Nona, die ihnen so nebenbei erzählte, daß einer ihrer Raphael-Vorfahren bei der Gründung der spanisch-portugiesischen Synagoge in New Amsterdam im Jahr 1654 mitgeholfen habe. Dafür hat Harold Steinberg ihr ebenso
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