Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)

Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)

Titel: Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Lorusso
Vom Netzwerk:
1
Ta-Shima
    Beim Lernen im
Arbeitsraum der Schule bewegte Lara die Lippen, ohne einen Mucks von sich zu geben. Hier hatte absolute Stille zu herrschen. Song Valdez, ein Schüler aus dem letzten Jahrgang, der mit der Aufsicht betraut war, brauchte den Rohrstock, der lässig zwischen seinen Händen lag, nicht einzusetzen.
    In wenigen Tagen standen Prüfungen in Anatomie, Physik und Botanik auf dem Plan, und die Schüler – die Shiro und die Asix gleichermaßen – büffelten wie besessen. Jene Asix, die eine Prüfung bereits das zweite Mal verpatzt hatten (und das waren nicht wenige), beschäftigten sich lieber mit handfesten Dingen, mit der Feldarbeit zum Beispiel, oder mit der Viehzucht, bei denen sie ihre körperliche Kraft und ihre Widerstandsfähigkeit einsetzen konnten. Das Lernen vernachlässigten sie gern.
    Wenn dagegen ein Shiro in der Schule versagte, und sei es nur ein einziges Mal, erwartete ihn eine harte Bestrafung. Bei diesem Gedanken verzog Lara das Gesicht. Das Wissen um die Folgen eines Versagens war alles andere als angenehm.
    Unvermittelt ertönte draußen der Gong. Schluss für heute! Die Schüler blickten erwartungsvoll auf Song Valdez, dem es offenbar Spaß machte, seine Macht auszuspielen, und der das Warten in die Länge zog. Endlich erklärte er die Stunde für beendet. Alle erhoben sich von ihren Stühlen, stellten ihre Bücher in die Regale ihrer jeweiligen Klasse, verbeugten sich vor Song und eilten aus dem Unterrichtsraum.
    Wang, Laras jüngerer Bruder, wartete bereits auf sie, und gemeinsam machten sie sich auf den Nachhauseweg. Ganz entgegen seiner Gewohnheit schwieg Wang, sodass Lara ihn fragte: »Was ist? Hat man dich bestraft? Hast du etwas angestellt?«
    »Eigentlich nicht. Ein älterer Schüler hat mich gefragt, ob ich Angst vor den Prüfungen hätte, und ich hab’s zugegeben. Die anderen haben gelacht. Aber statt sie zu bestrafen, hat er mich verdroschen.«
    »Oh, Wang! Wie schaffst du es nur, immer wieder ins Fettnäpfchen zu treten? Von Anfang an hat man uns eingebläut, dass ein Shiro niemals zugeben darf, Angst zu haben.«
    »Aber ich fürchte mich vor so vielen Dingen! Was ist, wenn ich gar kein Shiro bin? Bestimmt hat man mich nach der Geburt vertauscht.«
    »Sag nicht so etwas Dummes. Für was hältst du dich denn? Für ein Dschungeltier auf zwei Beinen?«
    »Nein, aber vielleicht für einen misslungenen Asix. Niemand macht einem Asix einen Vorwurf, nur weil er Angst hat. Keiner lacht ihn aus. Und niemand bestraft ihn, wenn er weint.«
    »Du bist ein Shiro, das sieht man auf den ersten Blick. Verhalte dich so, wie es sich gehört.«
    Sie gingen über den Markt, wobei sie begehrliche Blicke auf die Stände warfen, an denen Früchte aus dem Gorivalgebirge verkauft wurden. Die weißen und blauen Trauben und die gelben Kirschen schmeckten viel besser als das Obst aus der Ebene. Auf dem Markt gab es auch einen alten Asix, der im Schneidersitz vor einer Matte hockte, auf der Leckereien aus Teig und buntem Reis feilgeboten wurden. Fasziniert blieben Wang und Lara einen Augenblick davor stehen. Ob zwei Kinder schon mal das nötige Kleingeld besessen haben, hier einzukaufen?, fragte sich Lara.
    Am Abend würden all diese Waren, mit Mengenrabatt verscherbelt, im Haus des einen oder anderen Clans landen. Vielleicht, überlegte Lara, kaufte der Verwalter ihres Clans ja auch etwas; dann würden einige dieser Leckereien vielleicht auch auf ihrem Tisch stehen.
    Sie gingen an einem der nebelverhangenen Kanäle entlang, von denen die Stadt durchzogen wurde. Nachdem sie die kleine Steinbrücke überquert hatten, erreichten sie ihr Zuhause, das Anwesen des Huang-Clans.
    Die Unterkünfte der Pflegemütter lagen unweit des Eingangs. Sie waren durch Obstgärten und Vorratskeller von den Hauptgebäuden getrennt, damit die Erwachsenen des Clans nicht vonden Kindern gestört wurden. Das dritte Haus gehörte Dol, Lara und Wangs Pflegemutter. Tarr, Dols Pflegesohn, hatte vor der Tür einen Kirschbaum gepflanzt, und seit zwei Jahren nahmen Lara und Wang diesen Baum jeden Morgen kritisch in Augenschein, in der Hoffnung, dass er endlich Früchte hervorbrachte statt der Blüten, die nutzlos auf die Erde schwebten.
    Als sie Lachen und Kreischen im Hof hörten und Dols Stimme vernahmen, schritten sie schneller aus. Dol und Tarr duschten gerade. Die Kleinen hielten sich im weniger tiefen Bereich des Beckens auf, das ihnen vorbehalten war. Lara und Wang zogen rasch Hemd und Hose aus und stellten sich

Weitere Kostenlose Bücher