Der Medicus von Saragossa
uns.
Montesa bat um Vergebung, und erschrocken erkannte Jona, daß es der zehnte Tag des hebräischen Monats Tischri sein mußte, Jom Kippur, der Tag der Versöhnung. Am liebsten hätte er in Montesas Gebete mit eingestimmt, aber die Tür zum Amtszimmer des alguacil stand offen, und er konnte Isidoros laute und Pacos unterwürfige Stimme hören, und so fegte er nur um den Betenden herum und verschloß die Tür wieder, nachdem er die Zelle verlassen hatte.
An diesem Tag aßen alle Gefangenen die Grütze, die er in die Zellen brachte, bis auf Montesa, der das strikte Fastengebot dieses hohen Festtages befolgte. Auch Jona aß nichts, er war froh um diese Gelegenheit, sein Judentum ohne Gefahr ausüben zu können. So erhielt Mose sowohl seine als auch Montesas Grütze.
In der Nacht, als er schlaflos auf dem harten Boden des Verhörzimmers lag, bat Jona Gott um Vergebung für seine Sünden und für alle Kränkungen und Verletzungen, die er jenen beigebracht hatte, die er liebte, und jenen, die er nicht liebte. Er sagte das Kaddisch und dann das Schema auf und bat den Allmächtigen, er möge Eleasar und Aaron und Juana beschützen, und dann fragte er sich, ob sie überhaupt noch lebten.
Da er erkannte, daß er den jüdischen Kalender bald vergessen würde, wenn er nichts dagegen unternahm, beschloß er, sich die hebräische Jahreseinteilung vorzusagen, wann immer er eine Gelegenheit dazu hatte. Er wußte, daß fünf Monate – Tischri, Schewat, Nissan, Siwan und Aw – dreißig Tage hatten, die übrigen sieben – Cheschwan, Kislew, Tewet, Adar, Ijar, Tammus und Elul dagegen neunundzwanzig.
Zu gewissen Zeiten, in den Schaltjahren, wurden Tage hinzugefügt. Darüber wußte er allerdings nicht genau Bescheid. Abba hatte immer genau gewußt, was für ein Tag gerade war...
Ich bin nicht Tomas Martin, dachte er schläfrig. Ich bin Jona Toledano. Mein Vater war Helkias ben Ruben Toledano. Wir sind vom Stamme Levi. Heute ist der zehnte Tag des Monats Tischri im Jahr fünftausendzweihundertdreiundfünfzig...
4. Das Autodafé
F ür die Gefangenen begann ein neuer Abschnitt, als eines Morgens Wachen kamen, Espina Ketten anlegten und ihn in einem Karren zum Verhör vor die Inquisition brachten.
Es war Nacht, als sie ihn zurückbrachten, beide Daumen ausgerenkt, zerstört von der Folter mit der Schraube. Jona brachte ihm Wasser, er aber lag, das Gesicht zur Wand, auf dem Boden seiner Zelle.
Am Morgen ging Jona noch einmal zu ihm.
»Wie kommt's, daß Ihr hier seid?« flüsterte er. »In Toledo kannten wir Euch als Christen von ganzem Herzen.«
»Ich bin ein Christ von ganzem Herzen.«
»Aber... warum haben sie Euch dann gefoltert?« Espina schwieg eine Weile. »Was wissen die denn schon von Jesus?« sagte er schließlich.
Immer wieder kamen die Männer mit dem Karren und brachten die Gefangenen einen nach dem anderen weg. Juan Peropan kehrte mit gebrochenem linkem Arm vom Verhör zurück, man hatte ihn auf das Rad geflochten. Das genügte, um seine Frau Isabel zu brechen. Bei ihrem Verhör entging sie der Folter, indem sie alles gestand, was ihre Befrager ihr vorhielten.
Jona mußte dem alguacil Wein auftragen, als der eben zwei Freunden die Einzelheiten von Isabels Geständnis schilderte.
»Sie schob die ganze Schuld auf ihren Gatten. Juan Peropan habe nie aufgehört, Jude zu sein, sagt sie, nie, nie! Er habe sie gezwungen, koscheres Fleisch und Geflügel zu kaufen, sie gezwungen, unheiligen Gebeten zu lauschen und sie selbst aufzusagen, sie gezwungen, sie ihre Kinder zu lehren.«
Außerdem habe sie Zeugnis abgelegt gegen jeden der Gefangenen, die des Judaisierens angeklagt seien, und so die Vorwürfe gegen sie erhärtet.
Isidoro Alvarez sagte, sie habe sogar gegen den Arzt ausgesagt, obwohl sie ihn gar nicht kenne. Angeblich hatte er ihr gestanden, den Bund Abrahams erfüllt zu haben, indem er an achtunddreißig jüdischen Knaben die rituelle Beschneidung durchführte.
Die Verhöre der einzelnen Gefangenen dauerten einige Tage. Dann wurde eines Morgens auf dem Balkon des Offiziums der Inquisition ein rotes Banner aufgezogen zum Zeichen dafür, daß in Kürze bei einem Autodafe die Todesstrafen vollzogen würden.
Nachdem nun alle Hoffnung zerstört war, zeigte Bernardo Espina sich sehr begierig, von Toledo zu sprechen.
Jona traute ihm instinktiv. Als er eines Nachmittags den Boden des Korridors fegte, hielt er vor Espinas Zelle inne, und die beiden unterhielten sich. Jona berichtete, wie sein Vater zum leeren Haus
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