Der Meister des Siebten Siegels: Roman (German Edition)
Instrumente, Wundverbände, Tücher – Ihr bekommt reichlich Arbeit! Frauen, helft mit! Männer, beschafft Tragen, Pritschenwagen für den Transport der Verletzten!«
Inzwischen hat meine Frau trotz ihres schwangeren Zustands den Weg zu mir durch die Menge gefunden. Ihre Tränen und ihr zitternder Körper mit dem jungen Leben unter ihrem Herzen finden Erlösung in meinen Armen. Umschlungen stehen wir da – ohne ein Wort zu sprechen.
»Es ist ja alles gut. Geh bitte nach Hause, denk an unser Kind!«
Sie ist nur mit einem dünnen Tuch um die Schultern über ihrem Hauskleid zum Stollen geeilt.
»Du kannst hier nichts tun, Maria. Es ist alles vorbei – keine Gefahr mehr im Berg. Es kann nichts mehr passieren«, beruhige ich sie. »Geh jetzt! Das Entsetzliche darfst du nicht sehen! Es beginnt gleich.«
Ich höre, wie die ersten Hunten im Stollen heranrollen.
Agatha, die ich bis jetzt nicht wahrgenommen hatte, steht unerwartet neben uns. Sie drückt meine Hand, umfaßt meine Frau und zieht sie aus der Menge fort.
Ich wende mich dem Stollen zu:
»Platz da vorn! Packt mit an.«
Die ersten Hunten mit verletzten Knappen sind am Ausgang angekommen. Ich sehe, wie der Schichtmeister der dritten Schicht, Hans Grassberger, an Reisländer herantritt:
»Tote über Tote, Herr Bergmeister!«
Grassberger ist im Kreise der Schichtmeisterkollegen bekannt für seine trockene Art. Übertreibungen sind ihm fremd. Sein Vater war ein geachteter Arzt im Spital gewesen, der vor Jahren von Bayern nach Schwaz gezogen war. Auch jetzt berichtet er ruhig:
»Ich war am Schachtkopf Tiefenbau. Die Ketten des Kehrrades und die Radstube sind unversehrt, die beiden Stangenknechte leben. Die Knechte berichteten, daß das eingebrochene Wasser voll in den Tiefenschacht stürzte. Das Wasser kann noch nicht gehoben werden, da der Schacht durch Geröll, Holz und Leichen verbaut ist. Es müssen Millionen von Litern gewesen sein. Entsprechend steigt der Wasserspiegel im Tiefenbau unaufhörlich. Nur wenige haben sich vor dem Absturz retten können. Der Verbindungsstollen ist mit Material und Leichen verstopft. Überall zerfetzte Leiber …«
Die letzten Worte flüstert er, senkt dabei den Kopf, starrt auf den Boden.
»Die gesamte dritte Schicht«, fährt er fort, »ist dabei, den Abgang zum Tiefenbau und den Förderschacht freizubekommen. Die Verletzten und Toten aus dem Verbindungsschacht bis hin zum Tiefenbau werden gerade geborgen.«
Reisländer unterbricht ihn kurz:
»Was ist mit den tiefsten Stollen, dem Gapl und den Knappen dort unten?«
»Wir wissen es noch nicht. Wir hören zwar Stimmen, haben aber keine Vorstellung davon, wie es dort unten aussieht.«
»Wieviel Wasser ist eingebrochen?« bohrt Reisländer weiter.
Grassberger zuckt die Schultern. »Der Gapl scheint hinüber, bei den Millionen von Litern – wenn die Angaben der Stangenknechte stimmen.«
»Sie werden schon stimmen«, werfe ich ein und erinnere mich mit Entsetzen der vorüberbrausenden Fluten. »Der Gapl ist ein Blindstollen«, ergänze ich, »er hat keine Verbindung nach oben zum Grandi.«
Reisländer wendet sich zu mir:
»Dreyling, ich gehe mit Grassberger noch mal hinein, um mir ein genaues Bild zu verschaffen. Danach werde ich den Herren Fugger berichten, wie sie es wünschten.«
Er sieht dabei nach Süden in Richtung Schwaz, mit halb zugekniffenen Augen, als ob er auf etwas zielen wolle.
»Helft beim Abtransport unserer geschundenen Knappen«, ruft er den herumstehenden Männern zu; dann betritt er mit Grassberger zum drittenmal an diesem Tag den Sigmund-Stollen.
»Elf Schwerverletzte haben wir geborgen«, höre ich eine Stimme. »Jetzt bringen sie nur noch die Toten!«
Das Schluchzen und Jammern um mich herum setzt verstärkt ein, da die Hoffnung den Vater, den Sohn, den Bruder lebendig wieder zu sehen, immer geringer wird.
Was sich schließlich eine Stunde vor Mitternacht sichtbar vor dem Sigmund-Erbstollen zusammenfügt, ist eine Schreckensbotschaft für ganz Schwaz:
Zweiundvierzig Bergleute liegen tot vor der Krame. Manche nicht mehr erkennbar für die Angehörigen, die ihre Männer noch vermissen. Der Berg verstümmelt aufs grausamste. Viele sehen aus, als sei eine Horde Steppenreiter mehrmals über sie hinweggaloppiert, als seien sie danach Stunden geschleift und schließlich vom Fels gestürzt worden.
Einige Tote werden noch im Gapl vermutet. Es wird Tage dauern, bis das Wasser so weit gehoben ist, daß eine Begehung und Bergung möglich wird.
Wir
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