Der Meister des Siebten Siegels: Roman (German Edition)
müssen nach unten! Müssen selbst vor Ort, um die Männer aufzuhalten!
»Aufhören! Wartet, bis ich komme, ihr Hurensöhne!« Reisländers Gesicht ist weiß vor Zorn.
Knirschen. Krachen. Ein Knall, als ob eine Kanone explodiert.
Unter meinen Füßen zittert der Berg. Hinter mir höre ich schwere Gesteinsbrocken niederbrechen. Ein Erdbeben? Zischen, Grollen, als ob eine Schneelawine auf uns zurollen würde. Gischt spritzt mir ins Gesicht.
Ein Luftschwall wie der Atem eines Riesen schmettert mich zu Boden.
Eine gigantische, weiß schäumende Wasserfontäne schießt aus dem Schacht, schleudert Reisländer, Gstein, die Knappen fort.
Die Lampen erlöschen. Nur die Kienspäne oben an den Wänden brennen im Luftzug wild flackernd weiter, beleuchten das Unfaßbare.
Es ist passiert! Es ist passiert! Ich ertrinke! Ich werde erschlagen! Mein Herz hämmert, als wolle es die Rippen brechen.
Das Wasser reißt mich fort.
Felsen.
Wasser.
Schreie.
Ich werde herumgewirbelt. Pralle gegen Stein.
Irgendwie finde ich Halt. Kralle mich fest.
Die höllische Fontäne, so dick wie der abgeteufte Schacht, schleudert ein Gemisch aus Wasser, Menschenleibern, Kübeln, Gerätschaften, Felsbrocken und zerbrochene Leitern aus dem Loch bis an die Bergdecke zum ersten Felsvorsprung hinauf. Von dort abgelenkt, prasselt alles wie ein Wasservorhang wieder zurück auf die Sohle und bahnt sich seinen Weg in der Dunkelheit hin zum Verbindungsstollen …
Wasser, Unmengen von eisigem Wasser schießen an mir vorbei. Mit den Wassern kommen die Körper derjenigen, die sich auf dem glitschigen Fels nicht halten können. Häuer, Truhenläufer, Säuberbuben, Wasserknechte werden mitgerissen von dem Strudel, hinein in den Verbindungsschacht, der direkt zum Fürstenbau, zur Radstube und zum 125 Klafter tiefen Schrägschacht führt.
»Wassereinbruch! Wassereinbruch! Wassereinbruch!« hämmert es hinter meiner Stirn. Es ist, als hätte sich der Inn unterirdisch ein neues Bett gesucht.
Ich liege wie gelähmt, hilflos auf einem engen Felssims, der mich im Augenblick davor bewahrt, ins Ungewisse mitgerissen zu werden.
Der Druckschmerz in meinen Ohren droht mir den Schädel zu sprengen.
Der Berg grollt. Entleert sich. Gibt alles von sich.
Ich sehe Wasserwirbel an mir vorüberschießen, vermengt mit Menschenleibern. Entsetzliche Schreie gellen in mein Ohr.
Mein Gott, ich verliere den Verstand!
Die Menschen im Schrägschacht, im Tiefenbau! Wer warnt sie? Wer fängt im Fürstenbau die Leiber auf, vor dem Absturz in die Tiefe? Die noch Lebenden werden hineingespült, werden dort drunten ihren Tod finden …
Wasser über Wasser. Wasser und Verderben. Nichts als Wasser und Tod!
Weshalb klammere ich mich noch fest? Weshalb lasse ich nicht los, lasse mich nicht mitreißen, hinunter ins Bodenlose?
Dann wäre dieses Entsetzen vorbei. Endlich vorbei …
Jetzt … jetzt – hört es auf.
Friedhofsruhe.
Blub … blub … tönt es aus dem Schacht herüber. Blub …
Rülpser. Alles Rülpser.
Als wenn die Toten dort im Schacht schwer verdaulich wären.
»… vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern …«
Ich liege auf dem kleinen Sims, der mich gerettet hatte, zitternd, unfähig mich zu bewegen.
Mein Gott, warum hast du uns so hart bestraft? Haben wir so schwer gesündigt? Haben wir dich so sehr versucht? Haben wir nur den Vorteil unseres Tuns gesehen und so deine Gnade verspielt?
Jetzt erst merke ich, daß ich immer noch meine Lampe umklammert halte – wie ein Stück Holz, das dem Ertrinkenden falsche Hoffnungen vermittelt.
»Hilfe! Hilfe! … So helft mir doch! … Hilfe! … Hierher! … Kommt hier her …!«
Stimmen.
Dort aus dem Verbindungsstollen zum Fürstenbau kommen sie.
Ich bewege mich. Rutsche von dem Sims herunter. Taumele, stolpere zum Stollen hin.
Vor mir zwei Leiber, zwei Knappen. Fast wäre ich über sie gefallen. Der eine stöhnt.
Ich stelle die Lampe ab, drehe den schweren Körper seitlich zu mir: Korbi Brandhuber. In diesem Augenblick fängt der Verletzte zu Husten an, erbricht sich dabei. Ich ziehe ihn mit dem Oberkörper aufrecht sitzend an die Felswand.
»Herr Schiener … jetzt hart’ ich doch um ein Haar meinen Lehenstollen nicht mehr bekommen …«, keucht der Häuer mit verzerrtem Grinsen. »Mein rechtes Bein, verdammt! Das brennt wie Feuer, dabei ist hier bloß eisiges Wasser.«
Der zweite Knappe liegt reglos mit dem Gesicht auf dem Fels. Ich nehme ihn bei der Schulter, will ihn aufheben.
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