Der Meister des Siebten Siegels: Roman (German Edition)
Meine Hand zuckt zurück. Sein Schädel ist seitlich zertrümmert, das Gehirn quillt auf den nackten Fels. Seine Faust umklammert noch immer den schweren Pocher: Jos Ammer!
Ich kann nichts denken. Empfinde in diesem Augenblick nicht einmal Mitleid. Ich will nur raus – raus aus diesem Berg!
Ein Stöhnen läßt mich herumfahren. Da ist es. Deutlich, links seitlich, etwa einen Lachter über mir, kurz vor Beginn des engen Verbindungsstollens, aus dem die Schreie nach Hilfe gellen.
Ein Mann hängt, beide Arme ausgestreckt, die Finger eingekrallt in eine Rinne, wie eine nasse Katze an der steilen Wand, die nach oben führt.
Ich hebe meine Lampe nach oben, sehe das Blut, das von seinem Kopf über den Rücken das linke Bein entlang auf den Dolomit tropft.
Ich stelle die Lampe ab, fasse den Mann um die Hüften:
»Ruhig! Nur ruhig, ich bin schon da. Langsam … ganz ruhig! Laß los … langsam … jetzt!«
Ich merke, daß sich der Griff in den Fels lockert, sein Gewicht voll auf mich übergeht. Meine Hände gleiten unter seine Achseln. Er stöhnt auf, als ich ihn auf die Sohle herunterhole. Seine Füße knicken ein, von hinten umklammere ich seinen Leib. Behutsam helfe ich ihm beim Niedersetzen.
Dann erkenne ich im fahlen Licht sein Gesicht:
»Bergmeister! Gott sei gedankt!«
Es ist, als hätte ich nach vielen Jahren etwas überaus kostbares wiedergefunden.
»Adam, dem Himmel Dank, du lebst!«
Er greift nach seinem Hinterkopf, verzieht schmerzlich das Gesicht.
Ich knöpfe mein Lederzeug auf, reiße einen Streifen meines Hemdes ab, will ihm notdürftig die klaffende Wunde am Hinterkopf verbinden.
Reisländer wehrt ab:
»Wo sind die Knappen?
»Hört Ihr das Wimmern?«
»Es kommt aus dem Verbindungsstollen.«
»Was ist dort?«
»Ich weiß es nicht – ich wollte gerade nachsehen. Hinter uns liegt ein Verletzter, Korbi Brandhuber, und ein Toter, Jos Ammer. Mehr habe ich nicht gesehen, bevor ich Euch hier fand.«
Der Bergmeister richtet sich auf - taumelt. »Laß uns schnell hineingehen und helfen!«
Ich nehme die Lampe auf und krieche in den Stollen hinein. Reisländer folgt mir.
Am Verbindungstollen angekommen, schrecken wir zurück. Menschen – unsere Knappen, Gerätschaften, zertrümmerte Leitern, die wie Lanzen aus dem Haufen herausragen, Körperteile, Gesteinsbrocken – alles zusammen wie von einer Riesenfaust in den Stollen hineingestampft.
Zwei Köpfe, einer an der Decke ohne Nase, der andere knapp über dem Boden ohne Kopfhaar und Kopfhaut mit zerschlagenem Unterkiefer, wimmern nur mehr. Der vierschrötige Adelwart Demmer. Der Junghäuer Kunz Weidinger. Sie waren es wohl, die vorhin noch nach Hilfe schreien konnten – nun ragen ihre Köpfe aus dieser festgerammten Masse sterbend heraus. Hände, Beine, mehrmals grotesk abgewinkelt. Offene Brüche und Leiber. Die Körper der beiden Sterbenden sind nicht auszumachen. Sie sind so verkeilt im Stollen, daß wir, wollten wir sie herausbekommen, die Gliedmaßen einzeln herausschneiden müßten.
Das nachfließende Eiswasser staut kurz, findet jedoch irgendwie zwischen den Leichen einen Weg, sorgt dafür, daß das letzte Blut, bevor es gerinnt, weggewaschen wird.
Der Berg reinigt sich …
»Zurück, entsetzlich! Hier kann nur Gott noch helfen.«
Wir kriechen den Verbindungsstollen zurück.
Das Feld des Grauens, das Zentrum und der Sammelpunkt der Gier, widergespiegelt in Fels, Holz, Eisen, zerfetztem Fleisch, Schlamm und Blut liegt bis zum Tod ausgereizt wenige Fuß hinter uns.
Unsere Gesichter, unsere Gefühle verbirgt die Dunkelheit.
Dann sind wir wieder im Raber. Richten uns auf.
»Wir gehen über den Magdalenen-Stollen«, sagt Reisländer, der offensichtlich seine Fassung wiedergefunden hat.
»Sehen wir erst nach dem verletzten Brandhuber. Wir nehmen ihn mit – wenn er es schafft.«
Plötzlich dringen Geräusche an unsere Ohren.
»Sie sind alarmiert! Sie kommen, um uns zu retten!«
Das Schlagen und Klopfen im Berg ist ganz deutlich zu vernehmen. Außerhalb des Schichtwechsels gilt das Klopfen als Alarmzeichen für ein Unglück, gleichzeitig auch als Aufforderung an alle Knappen, sich am Ausgang des Sigmund-Stollens zu sammeln.
»Herr Fugger ist ein reicher Mann,
Hau, Jos, hau!
statt Erz jetzt Leichen haben kann!«
Mir läuft es eiskalt über den Rücken.
Ich sehe nach oben. Dort, auf halber Höhe des Rabers erkenne ich im Dämmerlicht eine Gestalt hastig nach oben klimmen.
»Nandl!«
Das Singen bricht ab. Steine kollern herunter,
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