Der Meister und Margarita
sauste dann ins Freie. Der Prokurator hob den Blick zum Gefangenen und sah neben diesem eine Staubsäule auflodern.
"Liegt noch was gegen ihn vor?" fragte Pilatus den Sekretär.
"Leider ja", antwortete der unerwartet und überreichte Pilatus ein anderes Pergament.
"Was denn noch?" erkundigte sich Pilatus stirnrunzelnd. Nachdem er das Pergament gelesen, verfärbte er sich, Ob ihm dunkles Blut ins Gesicht und zum Hals strömte oder ob etwas anderes geschah, jedenfalls verlor seine Haut die gelbe Farbe und wurde braun, und die Augen schienen ihm aus dem Kopf zu treten.
Wahrscheinlich war das Blut schuld, das ihm zu den Schläfen floß und dort zu pochen begann, jedenfalls geschah etwas mit seinem Sehvermögen. So deuchte ihn, daß der Kopf des Häftlings davonglitte und ein anderer an seine Stelle träte. Auf diesem kahlen Kopf saß ein goldener Reif mit wenigen Zacken. Auf der Stirn zerfraß ein rundes Geschwür die Haut, es war mit Salbe bestrichen. Ein eingesunkener, zahnloser Mund mit herabhängender, launischer Unterlippe. Pilatus war, als seien die rosa Säulen des Balkons und die fernen Dächer von Jerschalaim unterhalb des Gartens verschwunden und als sei alles ringsum im dichten Grün der Gärten von Capri versunken. Auch mit seinem Gehör hatte sich etwas Merkwürdiges begeben: In der Ferne schienen leise und drohend Trompeten zu schmettern, und ganz deutlich vernahm er die näselnde Stimme, die hochmütig und langgezogen sprach: "Das Gesetz über Majestätsbeleidigung ..."
Kurze, zusammenhangslose und ungewöhnliche Gedanken jagten sich in seinem Kopf. Er ist verloren! Dann — wir sind verloren! Auch ein ganz absurder Gedanke war dabei, der Gedanke an eine unabwendbare Unsterblichkeit (mit wem?), der jedoch unerträgliche Schwermut weckte.
Pilatus raffte sich zusammen und verscheuchte die Vision, sein Blick kehrte zu den Säulen zurück, und wieder waren vor ihm die Augen des Arrestanten.
"Höre, Ha-Nozri", sagte der Prokurator und warf Jeschua einen sonderbaren Blick zu. Sein Gesicht war drohend, doch die Augen zeigten Unruhe. "Hast du schon einmal etwas über den "großen Kaiser gesagt? Antworte! Hast du etwas gesagt? Oder ... hast du ... nicht?" Pilatus dehnte das Wort "nicht" etwas länger, als bei Gericht üblich, und sandte Jeschua durch seinen Blick einen Gedanken, den er dem Arrestanten gleichsam eingeben wollte.
"Leicht und angenehm ist es, die Wahrheit zu sagen", versetzte der Häftling.
"Ich will nicht wissen", erwiderte Pilatus dumpf und gereizt, "ob es dir angenehm oder unangenehm ist, die Wahrheit zu sagen. Du mußt sie ohnehin sagen. Wenn du sie aber sagst, so wäge jedes Wort, es sei denn, du sehnst dich nach einem nicht nur unvermeidlichen, sondern auch qualvollen Tod." Niemand weiß, was im Prokurator von Judäa vorging, aber er erlaubte sich, die Hand zu heben, als wolle er sich vor den Sonnenstrahlen beschirmen, und hinter der Hand wie hinter einem Schild dem Arrestanten einen bedeutungsvollen Blick zuwerfen. "Also", sagte er, "antworte, kennst du einen gewissen Judas aus Kirjath, und was, wenn überhaupt, hast du ihm über den Kaiser gesagt?"
"Das war so", erzählte der Gefangene bereitwillig, "vorgestern abend lernte ich beim Tempel einen jungen Menschen kennen, der sich Judas aus der Stadt Kirjath nannte. Er lud mich in sein Haus in der Unterstadt ein und bewirtete mich ..." "Ein guter Mensch?" fragte Pilatus, und ein diabolisches Feuer glomm in seinen Augen.
"Ein sehr guter und wißbegieriger Mensch", bestätigte der Gefangene. "Er bekundete größtes Interesse für meine Gedanken und nahm mich sehr herzlich auf..."
"Er zündete die Öllämpchen an", sagte Pilatus im gleichen Ton wie der Arrestant durch die Zähne, und seine Augen glitzerten. ,Ja", sagte Jeschua, ein wenig verwundert, daß der Prokurator dies wußte, dann fuhr er fort: "Er bat mich, ihm meine Ansicht über die Staatsmacht mitzuteilen. Dieser Frage maß er große Wichtigkeit bei."
"Und was hast du ihm gesagt?" fragte Pilatus. "Oder wirst du mir antworten, du habest es vergessen?" Aber seine Stimme klang hoffnungslos.
"Ich habe ihm unter anderem gesagt", erzählte der Arrestant, "daß. von jeder Staatsmacht den Menschen Gewalt geschehe und daß eine Zeit kommen werde, in der kein Kaiser noch sonst jemand die Macht hat. Der Mensch wird eingehen in das Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit, wo es keiner Macht mehr bedarf." "Weiter!"
"Weiter war nichts", sagte der Gefangene, "in diesem Moment stürmten Leute
Weitere Kostenlose Bücher