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Der Meister und Margarita

Titel: Der Meister und Margarita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Bulgakow
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geben würde, doch er mußte so tun, als errege sie sein Erstaunen.
    Das tat Pilatus sehr kunstvoll. Die Brauen in seinem hochmütigen Gesicht hoben sich, und er blickte dem Hohenpriester mit Verwunderung in die Augen.
    "Ich gestehe, daß diese Antwort mich erstaunt", sagte er sanft, "ich fürchte, das ist ein Mißverständnis."
    Pilatus erklärte sich näher. Die römische Macht wolle keineswegs die Rechte der hiesigen geistlichen Macht antasten, das sei dem Hohenpriester auch wohlbekannt, aber in diesem Falle liege doch wohl ein Irrtum vor, an dessen Behebung die römische Macht selbstverständlich interessiert sei. In der Tat: die Verbrechen War-Rawwans und Ha-Nozris seien an Schwere gar nicht vergleichbar. Werde der letztere, ein offenkundig Verrückter, aufwiegelnder dummer Reden in Jerschalaim und an anderen Plätzen geziehen, so sei der erstere bedeutend schwerer belastet. Nicht genug, daß er sich offene Aufrufe zur Meuterei habe zuschulden kommen lassen, habe er zudem bei seiner Festnahme einen Wächter getötet. War-Rawwan sei unvergleichlich gefährlicher als Ha-Nozri.
    Angesichts des Dargelegten bitte der Prokurator den Hohenpriester, den Beschluß zu überprüfen und denjenigen der beiden Verurteilten freizulassen, der minder gefährlich sei, ohne Zweifel Ha-Nozri. So sei es doch?
    Kaiphas erwiderte mit leiser, doch fester Stimme, das Synedrion habe den Fall sorgfaltig geprüft, und teilte abermals mit, es wolle War-Rawwan freilassen.
    "Wie? Trotz des Einspruchs von mir, in dessen Person die römische Macht spricht? Hoherpriester, wiederhole das ein drittes Mal."
    "Ich teile zum drittenmal mit, daß wir War-Rawwan freilassen werden", sagte Kaiphas leise.
    Alles war zu Ende, es gab nichts mehr zu besprechen. Ha-Nozri verschwand für immer, und niemand mehr war da, des Prokurators böse Schmerzen zu lindern, gegen die es kein Mittel gab denn den Tod. Allein, nicht dieser Gedanke beschäftigte Pilatus jetzt. Die unbegreifliche Schwermut, die ihn schon auf dem Balkon heimgesucht hatte, durchdrang ihn ganz. Er versuchte, eine Erklärung dafür zu finden, und es wurde eine seitsame Erklärung: Verschwommen dünkte es ihn, er habe mit dem Verurteilten nicht zu Ende gesprochen, ihn vielleicht auch nicht zu Ende angehört.
    Pilatus verscheuchte den Gedanken, der ebenso rasch verflog, wie er gekommen war. Er verflog, und die Schwermut blieb unerklärlich, denn der blitzartig aufgetauchte und alsbald wieder erloschene andere Gedanke — Unsterblichkeit... die Unsterblichkeit ist gekommen ... — konnte sie schließlich nicht erklären. Wessen Unsterblichkeit war gekommen? Das begriff der Prokurator nicht, doch der Gedanke an diese rätselhafte Unsterblichkeit ließ ihn trotz der Sonnenglut frösteln. "Nun gut", sagte Pilatus, "es sei so."
    Er blickte sich um, umfaßte mit einem Blick die ihm sichtbare Welt und wunderte sich über die eingetretene Veränderung. Der rosenschwere Strauch war verschwunden, und verschwunden waren auch die Zypressen, die die obere Gartenterrasse säumten, und der Granatapfelbaum und die weiße Statue im Grün und das Grün selbst. Statt dessen trieb dort purpurroter Schlamm, und in dem Schlamm wogten Wasserpflanzen und bewegten sich irgendwohin, und mit ihnen bewegte sich Pilatus. In sich trug er, würgend und sengend, den furchtbarsten Zorn, den es gibt, den Zorn der Ohnmacht.
    "Eng ist mir", sprach Pilatus, "eng ist mir!"
    Mit kaltfeuchter Hand riß er die Schnalle am Kragen seines Umhangs auf, und sie fiel in den Sand.
    "Es ist schwül, wir werden ein Gewitter bekommen", antwortete Kaiphas, der kein Auge vom geröteten Gesicht des Prokurators ließ und alle Qualen voraussah, die noch bevorstanden. Oh, schlimm ist der Monat Nissan in,diesem Jahr! "Nein", sagte Pilatus, "es rührt nicht daher, daß es schwül ist. Mit dir ist es mir zu eng, Kaiphas." Pilatus lächelte mit schmalen Augen und fügte hinzu: "Hüte dich, Hoherpriester." Die dunklen Augen des Hohenpriesters blitzten, und er ließ, nicht minder kunstvoll als zuvor der Prokurator, Verwunderung auf sein Gesicht treten.
    "Was höre ich, Prokurator?" antwortete Kaiphas stolz und ruhig. "Du drohst mir nach einem gefällten Urteil, das du selbst bestätigt hast? Wie kann das sein? Wir sind es gewohnt, daß der römische Prokurator seine Worte wägt, bevor er sie spricht. Es hat uns doch nicht etwa jemand zugehört?" Pilatus blickte mit toten Augen auf den Hohenpriester und deutete mit gefletschten Zähnen ein Lächeln an. "Was

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