Der Meister und Margarita
manchmal
als das tiefste Wesen der Wirklichkeit!"
"Ich werde Ihnen ein Geheimnis sagen: Vielleicht
war das alles überhaupt kein Traum!
Denn dort begab sich etwas Derartiges, etwas so
schrecklich Wahrhaftiges, daß man es gar nicht hätte träumen können ..."
Dostojewski
Alles, was in "Meister und Margarita" so phantastisch — und auf den ersten Blick vielleicht sogar unverständlich — erscheint, hat einen realen gesellschaftlich-geschichtlichen Ausgangs und Bezugspunkt. Dennoch ist das Werk kein Schlüsselroman.
Den realen Ausgangspunkt bezeugen nicht zuletzt Bulgakows Frühwerke der zwanziger Jahre, seine Erzählungen, Skizzen, Feuilletons und Stücke, in denen er das bunte Leben im nachrevolutionären Moskau reportagehaft, "unmittelbar nach der Natur" geschildert hat. Dort beschreibt er das reale "unheimliche Haus Nr. 50", "ZaÜberer" und betrogene Betrüger auf "Wahrsageveranstaltungen", sprechende und entlarvte "ägyptische Mumien", alptraumhafte, den Geist verwirrende psychologische Zeitvermischungen, die damalige Literatenwelt, die "Grimassen der NÖP-Zeit", Konjunkturritter, "falsche Lunatscharskis", Spekulanten, Fälscher, Raffer, Gauner und Banditen — "tote Seelen" Gogolscher und neuerer Herkunft —, und dort beschreibt er auch Moskau aus der Vogelperspektive ...
Doch erst die groteske Verfremdung und künstlerisch-phantastische Verallgemeinerung dieses Lebensmaterials in "Meister und Margarita" offenbart uns den tieferen geschichtlichen Zusammenhang und Gehalt dieser bunten Alltagsbilder. Die reale geschichtliche Grundlage für die besondere künstlerische Epochensicht in dem Roman ist die soziale, geistige und psychologische Vielschichtigkeit dieser Übergangszeit, in der antifeudal-bürgerliche und sozialistische Emanzipationsbestrebungen zeitlich beinahe zusammenfielen und außerdem noch von vorkapitalistischen bäurischen Bewußtseinsformen sowie von nachwirkenden altrussischen Traditionen überlagert wurden, besonders von dem Geist des byzantinistischen Zarismus und dessen Antipoden, dem kleinbürgerlichen Revoluzzertum im Stile Bakunins und Netschajews. Die Wirklichkeit bot also das, was das Genre der Groteske erfordert. Aber Bulgakow ging es nicht nur darum, diese innere Vielschichtigkeit der Epoche durch die groteske Form — den unerwarteten Wechsel und plötzliche Überschneidungen von verschiedenartigen Darstellungsebenen, von realen und phantastischen, von tragischen und komischen — poetisch sinnfällig zu machen. Vom "Verlangen nach Selbsterkenntnis" und vom Glauben an die Allmacht des "veredelten Willens der Menschen" im Sinne von Gorkis Konzeption der Weltliteratur beflügelt, ist auch sein Blick auf die Überwindung der "grausamen Widersprüche des Lebens", der Jahrhundertelangen Verirrung", auf den "Weg in eine glückliche und große Zukunft" gerichtet. Der Bezugspunkt des Romans ist also Bulga-kows Versuch, die ganze bisherige Menschheitsgeschichte und deren Perspektive geistig zu erfassen und künstlerisch zu bewältigen. Der groteske Gegenwartsroman entfaltet sich daher zu einer Menschheitsdichtung in der Tradition von Goethes "Faust" und Dostojewskis "Brüder Karamasow".
I
Die zutiefst zeitgenössisch-aktuelle und zugleich zukunftswichtige Zielrichtung des Romans hat Pjotr Palijewski klar umrissen: "Es lohnt sich, zu fragen, wer ist der Held dieses "unmöglichen" Romans. Das bleibt ungeachtet des klaren Titels ein Problem, weil die positive Idee des Autors sich offenkundig mit keinem Namen verbindet.. . Ständig wird man gezwungen,, darüber nachzudenken, für wen alle Ereignisse des Romans abrollen, für welche der dort handelnden Personen ist er eigentlich geschrieben? ... Jeschua ist nötig für den Roman, aber der Roman nicht für Jeschua ... Der Meister? Das ist nicht ausgeschlossen, obwohl man offensichtlich annehmen muß, daß der Autor nicht vollständig auf seiner Seite, steht... Nicht über die Meisterschaft und nicht ihretwegen wurde der Roman geschrieben. Der Meister und nicht Bulgakow setzt sich ernsthaft ein Käppchen mit dem eingestickten ,M' auf. Für Bulgakow war Meisterschaft glücklicherweise kein Problem. Sein Buch ragt unter anderem auch dadurch in der sich selbst erforschenden Literatur des 20. Jahrhunderts hervor. Nicht der ,Roman im Roman', der die technische Klasse demonstriert (vergessen wir nicht, das Nachäffen von Stilen ist dem Teufel überlassen), auch nicht die erhabenen Gedanken über die Schicksale der Kunst, sondern etwas
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