Der Meister und Margarita
Andrej Fokitsch war zehn Monate nach Volands Besuch in Moskau in der Universitätsklinik an Leberkrebs verstorben.
Ja, ein paar Jahre verstrichen, und die in diesem Buch wahrheitsgemäß geschilderten Ereignisse lagen lange zurück und waren aus der Erinnerung getilgt. Aber nicht bei allen. Jedes Jahr, wenn der festliche Frühlingsvollmond anbricht, erscheint am Abend unter den Linden des Patriarchenteichboulevards ein Mann von etwas über dreißig Jahren. Er hat rotes Haar, grüne Augen und trägt bescheidene Kleidung. Es ist der Mitarbeiter des Instituts für Geschichte und Philosophie Professor Iwan Nikolajewitsch Ponyrew.
Unter den Linden setzt er sich stets auf dieselbe Bank, auf der er an jenem Abend gesessen hatte, an dem der von allen längst vergessene Berlioz zum letztenmal in seinem Leben den in Scherben zerfallenden Mond sah.
Jetzt ist der Mond unversehrt, zu Beginn des Abends weiß, später golden mit einem dunklen Drachenpferdchen, und gleitet über den ehemaligen Lyriker hinweg, während er doch hoch droben stillsteht.
Iwan Nikolajewitsch weiß und begreift alles. Er weiß, daß er in seiner Jugend das Opfer verbrecherischer Hypnotiseure wurde, danach in Behandlung war und auskuriert wurde. Er weiß aber auch, daß es etwas gibt, womit er nicht fertig wird. Das ist der Frühlingsvollmond. Kaum rückt er näher, kaum wächst sie und füllt sich mit Gold, die Leuchte, die damals hoch über den beiden Fünflichtern hing, da wird Iwan Nikolajewitsch unruhig und nervös, verliert den Appetit, kann nicht mehr schlafen und erwartet des Mondes Reife. Und wenn der Vollmond anbricht, kann nichts ihn zu Hause halten. Am Abend verläßt er das Haus und geht zu den Patriarchenteichen.
Auf der Bank führt Iwan Nikolajewitsch laute Selbstgespräche, raucht, blickt mit verkniffenen Augen bald auf den Mond, bald auf das denkwürdige Drehkreuz.
So verbringt Iwan Nikolajewitsch eine Stunde oder zwei. Dann erhebt er sich und geht mit blicklosen Augen immer dieselbe Strecke: durch die Spiridonowka in die Seitengäßchen des Arbat.
Er kommt am Olladen vorbei, biegt bei der alten, schiefen Gaslaterne um die Ecke und schleicht zum Gitter, hinter dem ein üppiger, noch nicht belaubter Garten zu sehen ist; darin steht eine gotische Villa, deren eine Seite mit dem dreigeteilten Erkerfenster der Mond bescheint, die andere Seite ist dunkel. Der Professor weiß nicht, was ihn zu dem Gitter zieht und wer in der Villa wohnt, aber er weiß, daß es keinen Zweck hat, bei Vollmond gegen sich selbst anzukämpfen. Überdies weiß er, daß er im Garten hinterm Gitter jedesmal unweigerlich dasselbe Bild sehen wird.
Er sieht einen betagten gutgekleideten Mann mit Bärtchen, Kneifer und etwas ferkelartigen Gesichtszügen auf einer Bank sitzen. Dieser Bewohner der Villa sitzt jedesmal in derselben verträumten Haltung da und blickt zum Mond. Iwan Nikolajewitsch weiß, der Mann wird, nachdem er den Anblick des Mondes genossen hat, den Blick zum Erkerfenster richten und dort hinstarren, als erwarte er, daß es sich öffne und etwas Ungewöhnliches auf dem Fensterbrett erscheine. Auch alles Weitere weiß Iwan Nikolajewitsch auswendig. Er muß sich jetzt hinterm Gitter verstecken, denn gleich wird der Mann dort unruhig den Kopf drehen, mit flirrenden Augen nach etwas in der Luft haschen, selig lächeln und dann plötzlich in süßer Sehnsucht die Hände zusammenschlagen, dann wird er ziemlich laut murmeln: "Venus! Venus! Ach, ich Trottel!"
"O ihr Götter, ihr Götter!" flüstert dann Iwan Nikolajewitsch, drückt sich ans Gitter und starrt mit glühenden Augen auf den geheimnisvollen Unbekannten. "Noch ein Opfer des Mondes ... Ja, noch ein Opfer, genau wie ich ..." Der Mann dort aber spricht weiter:
"Ach, ich Trottel! Warum, warum bloß bin ich nicht mit ihr davongeflogen? Wovor hatte ich Angst, ich alter Esel? Eine Bescheinigung mußte ich verlangen! Ach, das hab ich jetzt davon, ich alter Idiot!"
So geht es weiter, bis auf der dunklen Seite der Villa ein Fenster klappt, etwas Helles dort erscheint und eine mißtönende Frauenstimme ruft:
"Nikolai Iwanowitsch, wo bist du? Was soll der Unsinn? Willst du dir die Malaria holen? Komm Tee trinken!" Dann kommt der Mann auf der Bank natürlich zu sich und antwortet mit falscher Stimme:
"Ein bißchen Luft wollt ich schnappen, mein Schnuckelchen! Die Luft ist so schön!"
Sodann erhebt er sich von der Bank, droht verstohlen mit der Faust gegen das wieder geschlossene Fenster und trottet ins
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