Der Meister und Margarita
Haus.
"Er lügt, er lügt! O ihr Götter, wie er lügt!" murmelt Iwan Nikolajewitsch und tritt vom Gitter zurück. "Er will ja gar nicht Luft schnappen, wenn Frühlingsvollmond ist, er sieht etwas im Gar-' ten und droben im Mond! Ach, was würd ich alles dafür geben, in sein Geheimnis einzudringen und zu wissen, was für eine Venus er verloren hat und nach wem er jetzt fruchtlos in die Luft hascht..."
Wenn der Professor nach Hause zurückkehrt, ist er schon ganz krank. Seine Frau tut, als bemerke sie seinen Zustand nicht, und drängt ihn, sich hinzulegen. Sie selbst geht nicht zu Bett, sondern sitzt mit einem Buch unter der Lampe und wirft wehe Blicke auf den Schlafenden. Sie weiß, beim Morgengrauen wird er mit qualvollem Schrei erwachen, wird weinen, sich hin und her werfen. Darum liegen vor ihr auf dem Tischtuch unter der Lampe eine Spritze in Alkohol und eine Ampulle mit einer Flüssigkeit von der Farbe starken Tees bereit.
Die arme Frau, an einen Schwerkranken gebunden, ist nach der Injektion frei und kann ohne Bedenken zu Bett gehen. Iwan Ni-kolajewitsch wird mit glücklichem Gesicht bis zum Morgen schlafen und von etwas Schönem, Höherem träumen, wovon sie nichts weiß.
Was aber den Gelehrten in der Vollmondnacht weckt und ihm den kläglichen Schrei abpreßt, ist immer dasselbe. Er sieht den nasenlosen Henker mit dumpfem Keuchlaut hochspringen und dem an den Pfahl geschnürten und übergeschnappten Gestas die Lanze ins Herz stoßen. Aber der Henker ist nicht so schrecklieh wie das unnatürliche Licht, das von einer Wolke ausgeht, die sich brodelnd über die Erde wälzt, wie es nur bei Weltkatastrophen zu sein pflegt Nach der Injektion wechseln die Bilder vor dem Schläfer. Vom Bett zum Fenster erstreckt sich eine breite Mondstraße, und auf diese Straße tritt ein Mann mit blutrot gefüttertem weißem Umhang und steigt empor zum Mond. Neben ihm geht ein junges" Mann in zerrissenem Chiton und mit entstelltem Gesicht. Die beiden führen ein hitziges Gespräch, streiten sich, wollen zu einer Übereinkunft gelangen.
"O ihr Götter, ihr Götter!" sagt der Mann im Umhang, das hochmütige Gesicht seinem Begleiter zugewandt. "Diese blöde Hinrichtung! Sag mir doch bitte" — in das Gesicht tritt ein flehender Ausdruck —, "sie hat doch gar nicht stattgefunden! Ich beschwöre dich, sag mir, sie war doch gar nicht?" "Natürlich war sie gar nicht", antwortet der Begleiter mit heiserer Stimme, "es ist dir nur so vorgekommen." "Kannst du das beschwören?" bettelt der Mann im Umhang. "Ich beschwöre es", antwortet der Begleiter, und seine Augen lächeln.
"Weiter brauche ich nichts!" ruft der Mann im Umhang mit gebrochener Stimme und steigt immer höher zum Mond, seinen Begleiter mit sich ziehend. Hinter ihnen geht ruhig und majestätisch ein riesiger spitzohriger Hund.
Dann wallt der Mondstrahl auf, aus ihm hervor schießt ein Mondstrom und ergießt sich nach allen Seiten. Der Mond herrscht und spielt, der Mond tanzt und albert. Aus dem Strom formt sich eine Frau von überirdischer Schönheit, sie führt am Arm einen stoppelbärtigen Mann, der sich furchtsam umsieht, auf Iwan zu. Iwan erkennt ihn sofort. Das ist Nummer hundertachtzehn, sein nächtlicher Gast. Iwan streckt im Traum die Arme nach ihm aus und fragt gierig: "Damit also endete es?"
"Damit endete es, mein Schüler", antwortet Nummer hundertachtzehn. Die Frau tritt auf Iwan zu und sagt: "Natürlich endete es damit. Alles endete, und alles endet... Ich küsse Sie auf die Stirn, dann wird bei Ihnen alles so sein, wie es sein muß .. ."
Sie beugt sich über Iwan und küßt ihn auf die Stirn, und Iwan strebt ihr entgegen und blickt ihr in die Augen, aber sie tritt zurück, immer weiter zurück, und entfernt sich mit ihrem Begleiter zum Mond.
Dann beginnt der Mond zu toben, schleudert Lichtströme auf Iwan, versprüht Licht nach allen Seiten, im Zimmer beginnt eine Mondlichtüberschwemmung, das Licht wogt, steigt höher, überflutet das Bett. Dann schläft Iwan Nikolajewitsch mit glücklichem Gesicht ein.
Am Morgen erwacht der Professor schweigsam, aber ruhig und gesund. Sein wundes Gedächtnis verstummt, und bis zum nächsten Vollmond beunruhigt ihn nichts mehr, weder der nasenlose Mörder des Gestas noch der grausame fünfte Prokurator von Judäa, der Ritter Pontius Pilatus.
1929-1940
Nachwort
Geschichte und Dichtung
in dem Roman
"Der Meister und Margarita"
"Das, was die meisten für beinahe phantastisch
und ungewöhnlich halten, erscheint mir
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