Der Meister und Margarita
Teilnahme des Unbekannten. Da sagt man nun, heutzutage gebe es keine herzensguten Menschen mehr! dachte er und fühlte, daß es ihm selber in den Augen juckte. Aber zugleich verschattete ein unangenehmes Wölkchen seine Seele, und wie eine Schlange beschlich ihn der Gedanke, ob sich nicht dieser herzensgute Mensch schon in der Wohnung des Verstorbenen eingenistet hatte, denn so was kommt im Leben vor.
"Entschuldigung, waren Sie ein Freund meines verstorbenen Mischa?" fragte er, wischte sich mit dem Ärmel das trockene linke Auge und musterte mit dem rechten den gramgeschüttelten Korowjew. Aber der schluchzte dermaßen, daß nichts zu verstehen war außer dem wiederholten "knacks — in zwei Hälften". Nachdem er hinlänglich geschluchzt hatte, löste er sich von der Wand.
"Nein, ich kann nicht mehr! Ich muß dreihundert Tropfen Ätherbaldrian nehmen..." Er wandte Poplawski sein verheultes Gesicht zu und schloß: "Dahin führt das mit den Straßenbahnen!" "Entschuldigung, haben Sie mir das Telegramm geschickt?" fragte Poplawski und grübelte qualvoll, wer dieser seltsame Weinerling sein mochte.
"Nein, er", antwortete Korowjew und wies auf den Kater. Poplawski riß die Augen auf und glaubte, sich verhört zu haben. "Nein, ich kann nicht mehr, meine Kraft ist zu Ende", fuhr Korowjew fort und zog die Nase hoch, "wenn ich daran denke: Rad übers Bein .. .Jedes Rad wiegt drei Zentner ... Knacks! Ich geh ins Bett, muß im Schlaf Vergessen suchen." Sprach's und verschwand.
Der Kater kam in Bewegung, er sprang vom Stuhl, stellte sich auf die Hinterpfoten, stemmte die Vorderpfoten in die Hüften, öffnete die Schnauze und sagte:
,Ja, ich hab das Telegramm aufgegeben. Was weiter?" Poplawski war wie vor den Kopf geschlagen, Arme und Beine wurden ihm lahm, er ließ den Koffer fallen und sank auf den Stuhl dem Kater gegenüber.
"Ich hab mich wohl deutlich ausgedrückt", sagte der Kater barsch, "was weiter?"
Aber Poplawski gab keine Antwort.
"Den Ausweis!" schnauzte der Kater und streckte die puschlige Pfote aus.
Poplawski, der keinen klaren Gedanken fassen konnte und nichts mehr sah als die glühenden Funken in den Katzenaugen, riß den Ausweis aus der Tasche wie einen Dolch. Der Kater griff von der Spiegelkonsole eine dicke schwarze Hornbrille, setzte sie auf die Schnauze, war, ihm ein noch imposanteres Aussehen verlieh, und nahm Poplawski den Ausweis aus der flatternden Hand.
Ich bin ja neugierig, ob ich in Ohnmacht falle oder nicht, dachte Poplawski. In der Ferne hörte man Korowjew schluchzen, und die Diele füllte sich mit einem Geruch von Äther, Baldrian und noch etwas Scheußlichem.
"Welches Revier hat das Dokument ausgestellt?" fragte der Kater und starrte in-den geöffneten Ausweis. Eine Antwort bekam er nicht. ,Aha, Revier vierhundertzwölf', sagte der Kater zu sich selbst und fuhr mit der Pfote über den Ausweis, den er verkehrt herum hielt. "Na natürlich! Dieses Revier kenn ich, die geben ja jedem Hergelaufenen einen Ausweis. Einem wie Ihnen würd ich nie einen Ausweis geben! Um keinen Preis! Beim ersten Blick auf Ihr Gesicht würd ich mich rundheraus weigern!" Der Kater war so erbittert, daß er den Ausweis zu Boden schleuderte. "Ihre Anwesenheit bei der Beerdigung erübrigt sich", fuhr er in offiziellem Ton fort. "Bemühen Sie sich zurück zu Ihrem Wohnsitz." Und er raunzte in Richtung der Tür: "Asasello!" Daraufhin erschien in der Diele hinkend ein kleiner Mann in straffem schwarzem Trikot, mit einem Lederriemen umgürtet, in dem ein Messer steckte. Er war rothaarig, hatte einen gelben Eckzahn und im linken Auge den Star.
Poplawski spürte, daß ihm die Luft knapp wurde. Er stand vom Stuhl auf, wich zurück und griff sich ans Herz.
"Bring ihn raus, Asasello!" befahl der Kater und verließ die Diele.
"Poplawski", näselte der Rothaarige leise, "ich hoffe, du hast begriffen?"
Poplawski nickte.
"Fahr sofort zurück nach Kiew", fuhr Asasello fort. "Verhalte dich dort mucksmäuschenstill und träume nie wieder von einer Wohnung in Moskau. Kapiert?"
Der kleine Mann, der mit seinem Eckzahn, dem Messer und dem schiefen Auge Poplawski Todesangst einflößte, reichte ihm nur bis zur Schulter, aber er handelte tatkräftig, zweckmäßig und wohlüberlegt.
Als erstes hob er den Ausweis auf und gab ihn Poplawski, der ihn mit toter Hand entgegennahm. Dann ergriff er mit einer Hand den Koffer, riß mit der anderen die Tür auf, nahm Berlioz' Onkel beim Arm und führte ihn hinaus auf den Treppenabsatz.
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