Der Memory Code
lange. Während er ungeduldig wartete und dabei verbissen den Professor am Leben zu halten versuchte, beschlich ihn die Überzeugung, dass er an dieser Stätte schon einmal den Geschmack des Todes gespürt hatte. Er wusste nicht, was hier in der Vergangenheit geschehen war, aber er hatte das Gefühl, sich auf einer unbegreiflichen Wiederholungsreise zu befinden, die zu beenden nicht in seiner Macht stand.
Auf dem Fußboden sitzend, die Hand an Rudolfos Puls, richtete er den Blick nach oben, zur Einstiegsöffnung und zum Himmel. So konnte er die Sanitäter gleich bei ihrem Eintreffen sehen.
Die Luft um ihn herum begann zu schwingen; ein gespanntes Frösteln überlief Joshs Arme und Beine. Obwohl er völlig regungslos in einer Dimension verharrte, war ihm, als würde er von einem Sog erfasst und in einen Strudel gezogen, in dem die Atmosphäre schwerer und dichter war. In dem er gleichsam schwebte, mehr Geist als Mensch, und in dem er das Gefühl der Beglückung reiner und schärfer erfuhr.
Es begann wie jede Episode. Die Szene entwickelte sich langsam, etwa so, wie Fotografien im Fixierbad, fast wie von Geisterhand auf jungfräulich weißes Papier gebannt, auftauchend aus quirlender Flüssigkeit. Wie ein Fremder sah er von außen zu, was sich ihm darbot. Dann, binnen Sekunden, wurde er zu der Person, die er da beobachtete. Sah nun mit ihren Augen, sprach mit ihrer Stimme. War nicht länger er selbst. Er hatte sein Selbst verloren. Und wusste gar nicht mehr, dass es ein anderes Selbst überhaupt gab.
10. KAPITEL
J ulius und Sabina
Rom
–
386 nach Christus
Schreie rissen ihn aus dem Schlaf. Beißender Qualm drang, vom Wind getrieben, in seine Schlafkammer. Sie lebten alle in Furcht vor einem Brand, und die meisten von ihnen hatten irgendwann in ihrem Leben schon einen auf die eine oder andere Weise miterlebt. Feuer war allerheiligster Besitz, Feuer war aber zugleich auch ärgster Feind.
Zur Warnung erzählte man sich noch immer, wie ein Großbrand die Stadt vor mehr als dreihundert Jahren zu zwei Dritteln in Schutt und Asche gelegt hatte. In der Nacht vom 18. Juli des Jahres 64 war in den Buden am Circus Maximus ein Feuer ausgebrochen. Dort standen einfach zu viele Gebäude, alle aus Holz errichtet und dicht an dicht gebaut. Heiße Sommerwinde fachten das Feuer an, bis nach und nach sämtliche Läden und Wohnquartiere, manche fünf, sechs Stockwerke hoch, in Flammen standen. Das Inferno tobte sechs Tage und sieben Nächte, und die verkohlten Überreste schwelten danach noch tagelang.
Die Stadt lag in Trümmern.
Der römische Historiker Tacitus schildert in seinen “Annalen”, wie die Bewohner Roms – Männer, Frauen, hilflose Greise und Kinder, Flüchtlinge und Zuschauer gleichermaßen – in Todesangst den Flammen zu entkommen versuchten, und zwar alle auf einmal, was die Verwirrung nur noch verschlimmerte.
Manche, heißt es, besonders jene, die zu viel verloren hatten oder sich mit Selbstvorwürfen quälten, weil sie ihre Lieben nicht retten konnten, verzichteten auf eine Flucht. Sie warfen sich freiwillig in die Flammen und kamen im Feuer um. Zu allem Überfluss waren etliche nicht mehr zur Brandbekämpfung bereit, seit die Helfer tätlich von Banden angegriffen wurden. Daher auch die Gerüchte, Kaiser Nero habe den Brand absichtlich legen lassen, weil er nach einem Anlass suchte, die Christen zu verfolgen. Immerhin peinigte er die Anhänger Christi schon jahrelang, indem er sie als menschliche Fackeln benutzte, ans Kreuz schlagen oder wilden Tieren vorwerfen ließ. Aber war dem Kaiser zuzutrauen, seine eigene Stadt zu vernichten?
Viele schrieben das große Inferno erzürnten Göttern und unglückseligen Verkettungen zu. Andere wiederum glaubten, die Christen hätten das Feuer selbst gelegt, um die verhasste Heidenstadt zu vernichten. Denn Wochen vor jenem verhängnisvollen Juliabend hatten radikale Elemente in den Gassen der Armenviertel für Aufruhr gesorgt, indem sie die Vernichtung Roms durch Flammen prophezeiten und die Bürger gegen die alte Ordnung aufhetzten.
Nun, dreihundert Jahre nach dieser Katastrophe, eilte Julius zum Tempel, die Nase gereizt vom beizenden Rauch, das Gesicht von der Hitze gerötet. Er fürchtete, dass der Brand politische Ursachen hatte. Wie viele Hohepriester neigte auch er der Ansicht zu, dass das Römische Imperium, wie sie es gekannt hatten, in seinen letzten Zügen lag. Dafür sorgten der Kaiser sowie der Bischof von Mediolanum. Das weltanschauliche Ringen zwischen
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