Der Menschen Hoerigkeit
du dir allein die Hände waschen, oder soll ich dir helfen?«
»Ich kann sie mir selbst waschen«, antwortete er bestimmt.
»Nun, dann werde ich sie ansehen, wenn du zum Tee hinunterkommst«, sagte Mrs. Carey. Sie wusste nichts von Kindern. Nachdem entschieden wurde, dass Philip nach Blackstable kommen sollte, hatte Mrs. Carey viel darüber nachgedacht, wie sie mit ihm umgehen sollte; sie war darauf bedacht, ihre Pflicht zu tun, aber als sie den Jungen nun vor sich hatte, war sie genauso befangen wie er. Sie hoffte, dass er nicht laut und wild sein würde, weil ihr Mann laute und wilde Kinder nicht leiden mochte. Mit einer Entschuldigung ließ sie Philip allein, kehrte aber einen Augenblick später wieder um und klopfte an die Tür; ohne hereinzukommen, fragte sie, ob er allein Wasser ins Waschbecken gießen könne. Dann ging sie hinunter und läutete die Teeglocke.
Das große schön geschnittene Speisezimmer hatte an zwei Seiten Fenster mit schweren roten Ripsvorhängen; in der Mitte stand ein großer Tisch und an einem Ende ein imposantes Mahagonibüffet mit einem Spiegel. In einer Ecke stand ein Harmonium. Der Kamin war rechts und links von Stühlen flankiert, die mit gepresstem Leder bezogen waren und in Hussen gehüllt. Der eine hatte Armlehnen und hieß ›der Mann‹, der andere hatte keine und hieß ›die Frau‹. Mrs. Carey saß niemals in dem mit den Lehnen: Sie erklärte, dass sie für allzu bequeme Stühle nichts übrighabe; es gebe stets eine Menge zu tun, und säße sie in einem Lehnstuhl, könnte sie sich nicht so leicht entschließen, wieder aufzustehen.
Mr. Carey schürte das Feuer, als Philip hereinkam, und machte seinen Neffen darauf aufmerksam, dass zwei Schüreisen vorhanden wären. Das eine war groß, blank, glänzend und unbenützt und wurde ›der Vikar‹ genannt; das andere, kleine, das, man konnte es ihm ansehen, durch viele Feuer hindurchgegangen war, hieß ›der Kurat‹.
»Worauf warten wir noch?«, fragte Mr. Carey.
»Ich habe Mary Ann aufgetragen, dir ein Ei zu kochen. Ich dachte, du würdest hungrig sein nach der Reise.«
Mrs. Carey betrachtete die Fahrt von London nach Blackstable als etwas sehr Ermüdendes. Sie selbst reiste nur selten, denn die Pfarre brachte nur dreihundert Pfund im Jahr ein, und wenn der Vikar eine Erholung nötig hatte, fuhr er, da das Geld für zwei nicht reichte, allein. Er hatte eine große Vorliebe für Kirchenkongresse und gestattete sich einmal jährlich eine Reise nach London; einmal hatte er die Weltausstellung in Paris besucht und zwei- oder dreimal die Schweiz. Mary Ann brachte das Ei, und sie setzten sich zu Tisch. Der Stuhl war viel zu niedrig für Philip, und einen Augenblick wussten Mr. Carey und seine Frau nicht, was sie tun sollten.
»Ich werde ein paar Bücher darauf legen«, sagte Mary Ann.
Sie nahm vom Harmonium die große Bibel und das Gebetbuch, aus dem der Vikar vorzulesen pflegte, und legte beide auf Philips Stuhl.
»Ach, William, er kann doch nicht auf der Bibel sitzen«, rief Mrs. Carey entsetzt. »Willst du ihm nicht ein paar Bücher aus deinem Arbeitszimmer holen?«
Mr. Carey überlegte einen Augenblick.
»Lassen wir es, dies eine Mal«, sagte er. »Aber Sie müssen das Gebetbuch obenauf legen, Mary Ann. Das Gebetbuch ist Menschenwerk, es hat keinen Anspruch auf göttliche Herkunft.«
»Das habe ich nicht bedacht, William«, sagte Tante Louisa.
Philip setzte sich auf die Bücher, und der Vikar köpfte, nachdem er das Tischgebet gesprochen hatte, sein Ei.
»Da«, sagte er und reichte Philip die Spitze, »das darfst du essen, wenn du willst.«
Philip hätte gern ein ganzes Ei gehabt, aber man bot ihm keines an, und so nahm er, was er bekommen konnte.
»Wie haben die Hühner gelegt während meiner Abwesenheit?«, fragte der Vikar.
»Ach, sie waren so schrecklich faul. Nur ein, zwei am Tag.«
»Wie hat dir die Spitze geschmeckt, Philip?«, fragte der Onkel.
»Sehr gut, danke.«
»Sonntagnachmittag sollst du wieder eine haben.«
Mr. Carey bekam jeden Sonntagnachmittag ein gekochtes Ei zum Tee, zur Stärkung für den bevorstehenden Abendgottesdienst.
5
Philip lernte allmählich die Menschen kennen, in deren Umgebung er nun lebte, und erfuhr durch Gesprächsfragmente, von denen einige keineswegs für seine Ohren bestimmt waren, mancherlei über sich selbst und seine toten Eltern. Philips Vater war viel jünger gewesen als der Vikar von Blackstable. Nach einer glänzenden Studienzeit im St.
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