Der Menschen Hoerigkeit
er sich, beugte sich zu ihm nieder und küsste ihn auf die Stirn. Er war ein zu Korpulenz neigender Mann von unterdurchschnittlicher Größe. Sein Haar war lang und mit Sorgfalt über den Schädel gekämmt, um dessen Kahlheit zu verbergen. Er war glattrasiert. Seine Gesichtszüge waren regelmäßig, und in seiner Jugend mochte er gut ausgesehen haben. An seiner Uhrkette trug er ein goldenes Kreuz.
»Du wirst jetzt bei mir leben, Philip. Wird dir das gefallen?«
Vor zwei Jahren war Philip, nachdem er Windpocken gehabt hatte, zur Erholung in das Pfarrhaus geschickt worden, aber von diesem Besuch war ihm eher ein Dachboden und ein großer Garten in Erinnerung geblieben als sein Onkel und seine Tante.
»Ja.«
»Du musst mich und Tante Louisa von nun an als deine Eltern betrachten.«
Um den Mund des Kindes zuckte es, er errötete, antwortete aber nicht.
»Deine liebe Mutter hat dich meiner Obhut anvertraut.«
Mr. Carey fiel es nicht besonders leicht, sich auszudrücken. Als ihn die Nachricht erreichte, dass seine Schwägerin im Sterben liege, reiste er unverzüglich nach London, aber unterwegs dachte er bloß an die Umwälzungen, die seinem Leben drohten. Wenn seine Schwägerin nun starb, wäre er gezwungen, ihren kleinen Sohn zu sich zu nehmen. Er war weit über fünfzig, und seine Frau, mit der er seit dreißig Jahren verheiratet war, hatte keine Kinder. Die Aussicht, einen kleinen Jungen ins Haus zu bekommen, der vielleicht laut und wild war, schien ihm wenig verlockend. Er hatte nie viel für seine Schwägerin übriggehabt.
»Morgen nehme ich dich mit nach Blackstable«, sagte er.
»Emma auch?«
Das Kind schob seine Hand in die ihre, und sie drückte sie.
»Emma wird leider nicht bei dir bleiben können«, sagte Mr. Carey.
»Aber ich möchte, dass Emma mitkommt.«
Philip brach in Tränen aus, und auch das Mädchen musste weinen. Mr. Carey blickte die beiden hilflos an.
»Vielleicht lassen Sie mich einen Augenblick mit Master Philip allein.«
»Bitte, Sir.«
Philip klammerte sich an ihre Röcke, aber sanft machte sie sich los. Mr. Carey hob den Jungen auf seine Knie und legte den Arm um ihn.
»Du darfst nicht weinen«, sagte er. »Du bist schon zu groß für ein Kindermädchen. Wir werden uns nach einer Schule für dich umsehen müssen.«
»Ich möchte aber, dass Emma mitkommt«, wiederholte das Kind.
»Das kostet zu viel Geld, Philip. Dein Vater hat nur wenig hinterlassen, und ich weiß nicht, was daraus geworden ist. Du musst auf jeden Penny achten, den du ausgibst.«
Mr. Carey hatte tags zuvor den Rechtsanwalt der Familie besucht. Philips Vater war ein Chirurg mit einer gutgehenden Praxis gewesen, die auf gesicherte Vermögensverhältnisse schließen ließ; es war daher eine Überraschung gewesen, als sich nach seinem plötzlichen Tod – er starb an einer Blutvergiftung – herausstellte, dass er seiner Witwe wenig mehr als seine Lebensversicherung hinterlassen hatte und die Miete, die das Haus in der Burton Street abwarf. Das war vor sechs Monaten gewesen; und Mrs. Carey, deren Gesundheit angeschlagen war, erwartete ein Kind und hatte den Kopf verloren und das Haus an den Erstbesten vermietet. Sie stellte ihre Möbel bei einem Spediteur ein und mietete zu einem Preis, den der Pastor übertrieben hoch fand, für ein Jahr ein möbliertes Haus, um bis zur Geburt des Kindes allen Unannehmlichkeiten auszuweichen. Aber sie war es nicht gewohnt, mit Geld umzugehen, und mühte sich vergebens, ihre Ausgaben den veränderten Umständen anzupassen. Das wenige, was sie besaß, zerrann ihr zwischen den Fingern, und was nun, nachdem alles bezahlt war, an Vermögen übrigblieb, war nicht viel mehr als zweitausend Pfund, die ausreichen mussten, um den Jungen zu unterstützen, bis er imstande war, für sich selbst zu sorgen. Es war unmöglich, Philip dies alles zu erklären, und er schluchzte noch immer.
»Geh jetzt zu Emma«, sagte Mr. Carey, der fühlte, dass sie am ehesten imstande sein würde, ihn zu trösten.
Wortlos glitt Philip von den Knien seines Onkels, aber Mr. Carey hielt ihn noch einen Augenblick fest.
»Wir müssen morgen reisen, weil ich am Samstag meine Predigt vorbereiten muss. Sag Emma, dass sie heute noch deine Sachen packen soll. Du darfst alle deine Spielsachen mitnehmen. Und wenn du etwas als Andenken an deine Eltern haben willst, darfst du dir zwei Gegenstände aussuchen: einen für deinen Vater und einen für deine Mutter. Alles andere wird verkauft.«
Der Junge
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