Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
Vom Netzwerk:
Kälte bereits nach zehn Minuten durch sämtliche Glieder. Seine Nase tropfte, und er zog sie so laut und ungeniert hoch, dass er in der Stille der Nacht selbst über das Geräusch erschrak.
    Ich hau ab, überlegte er, ich geh in mein Zimmer und schlafe bis morgen früh. Auf keinen Fall kann ich hier übernachten. Schwiegermutter, Mutter und Kind schlafen fest, und ich Idiot liege hier im festgefrorenen Laub. Irgendwie werde ich morgen früh schon rauskriegen, falls sie heute Nacht noch in die Klinik gefahren ist.
    BLEIB!
    Jonathan wagte es nicht aufzustehen und hörte zumindest für eine Weile auf, über seine missliche Situation nachzudenken. Die Augen wurden schwer und fielen ihm immer wieder zu. Ihm wurde klar, dass er erfrieren würde, wenn er jetzt einschlief, und er ertappte sich bei dem Gedanken, dass es ein schöner Tod wäre. Jetzt einfach schlafen, und alles wäre vorbei. Ein für alle Mal.
    In diesem Moment ging im Wohnzimmer das Licht an.
    Leonie kam herein. Sie war barfuß und hatte ein Nachthemd an, das über ihrem prallen Leib spannte, ging zum Kühlschrank, nahm Milch heraus und trank sie direkt aus der Tüte. Dabei hielt sie sich den Rücken und streckte ab und zu den Kopf in den Nacken, als habe sie große Schmerzen.
    Plötzlich wandte sie sich um und sah in den Garten. Jonathan hatte das Gefühl, sie sähe ihn direkt an, und hielt den Atem an, aber dann – erst nach einigen Sekunden – sagte er sich, dass es unmöglich war. Aus dem hell erleuchteten Wohnzimmer konnte sie niemals erkennen, was sich draußen in der Dunkelheit abspielte.
    Er war so mit seinen Gedanken und seiner eigenen Beruhigung beschäftigt, dass er zu spät registrierte, dass Leonie die drei Schritte zum Kamin gegangen war und die Gartenbeleuchtung angeschaltet hatte.
    Jonathan machte einen Satz nach hinten. Der Busch bewegte sich, Zweige knackten.
    Leonie rief ihre Schwiegermutter und deutete mit ausgestrecktem Arm angstvoll nach draußen. Hella ging vor direkt bis ans Fenster, sah angestrengt nach draußen und schüttelte schließlich den Kopf.
    Jonathan vermutete erleichtert, dass sie wahrscheinlich »da ist nichts« zu Leonie gesagt hatte.
    Er war jetzt hoch konzentriert und übervorsichtig, immerhin war es möglich, dass eine der beiden in den Garten kam, um genauer nachzuschauen, und so schnell konnte er unbemerkt nicht flüchten. Aber dann vertraute er darauf, dass sie sich beide zu sehr davor fürchteten, das schützende Haus zu verlassen. Wenn Tobias da gewesen wäre – er wäre bestimmt hinausgegangen, schon um Leonie zu beruhigen, aber Tobias war zum Glück nicht da. Wahrscheinlich machte er seinen Job in Bangkok oder Singapur. Gut so.
    Eine halbe Stunde später ging das Licht wieder aus, Hella und Leonie verließen das Wohnzimmer, und dann war alles ruhig. Nichts passierte. Kein Laut. Jonathan fror erbärmlich.
    BLEIB! , sagte die Stimme.
    Jonathan blieb und musste doch eingeschlafen sein, denn plötzlich schreckte er hoch. Im Wohnzimmer war alles dunkel, aber er hörte, wie die Haustür zugeschlagen und kurz darauf ein Wagen angelassen wurde.
    Innerlich fluchend, robbte er zurück, aber als er die Straße erreichte und zu seinem Auto rannte, sah er in der Ferne nur noch die Rücklichter, deren Leuchtkraft immer schwächer wurde, und plötzlich war da nur noch tiefschwarze Nacht.
    Er war wütend auf sich selbst. Er tobte innerlich. Leonie war ins Krankenhaus gefahren, und er wusste nicht, in welches. Wenn das Kind auf normalem Weg zur Welt kam, hatte er jetzt zwölf, maximal vierundzwanzig Stunden Zeit herauszukriegen, wo sich Leonie befand. Spätestens dann würde sie mit dem Kind wieder zu Hause sein, und seine Chance war vertan.
    Jetzt musste er erst einmal den Vormittag abwarten, und dann brauchte er Geduld und ein bisschen Glück.

VIERUNDDREISSIG
    »Tschüss, mein Spatz, sei schön lieb, vielleicht geht die Oma ja heute mit dir auf den Spielplatz, dann kannst du wieder schaukeln.« Tillie sah ihre Mutter fragend an, aber diese stand mit zerzausten Haaren und verschränkten Armen im Nachthemd im Flur und reagierte gar nicht.
    Tillie wusste, dass ihre Mutter jetzt erst einmal Kaffee trinken und mehrere Zigaretten rauchen würde, dann würde sie sich im Bad fertig machen und anziehen und Yvonne währenddessen sich selbst überlassen. Tillie durfte gar nicht daran denken, sonst wurde sie verrückt. Aber sie hatte keine andere Möglichkeit, als die Kleine der Oma zu überlassen. Sie war alleinerziehend und hatte

Weitere Kostenlose Bücher